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Symbol des Neuanfangs. Werbung für den Messerschmidt-Kabinenroller KR 200 aus den fünfziger Jahren.

© Museum Industriekultur Osnabrück/picture alliance / dpa

Michael Rutschky: Wunderjahre

Plexiglas, Glanzstoff und die Taschenkalender des Vaters: Michael Rutschky weitet seine Familiengeschichte im "Merkbuch" zu einem Epochenpanorama.

Wunderwaffen wie die V2-Rakete, als „Vergeltungswaffe“ vom späteren Raumfahrtpionier Wernher von Braun entwickelt, oder die Messerschmitt Me 262, das erste serienmäßig hergestellte Düsenflugzeug der Welt, ließen die Deutschen noch Anfang 1945 auf eine Kriegswende hoffen. Der Krieg ging verloren, das Wunder ereignete sich etwas zeitversetzt dann trotzdem. Ironischerweise waren es die alliierten Bomberflotten, die dem Wirtschaftswunder den Weg ebneten. Die Tabula-rasa-Situation nach der Kapitulation und die Dollar-Milliarden des Marshallplans verhalfen der deutschen Wirtschaft zum Aufbau modernster Produktionsstätten. Firmen, die eben noch die Wehrmacht aufgerüstet hatten, machten nun Rekordprofite mit zivilen Nachfolgeprodukten. Zum Symbol dieses Wandels wurde der Messerschmidt-Kabinenroller, ein dreirädriges Kleinfahrzeug, das mit seiner Plexiglashaube wie die Flugzeugkanzel eines Jagdbombers aussah.

Der Messerschmidt-Kabinenroller kurvt immer wieder mal durch die Seiten von Michael Rutschkys „Merkbuch“. Das Buch trägt den Untertitel „eine Vatergeschichte“, es ist die anrührende Erinnerung an einen Mann des Jahrgangs 1893, der schon zu alt war, um noch persönlich vom Wunder des deutschen Nachkriegsaufschwungs profitieren zu können. Vor allem aber ist es so etwas wie ein Entwicklungsroman, eine Art Éducation sentimentale in den Kulissen des Wiederaufbaus. Der Sohn kommt 1943 zur Welt, er ist 10 Jahre alt, als der Messerschmidt-Kabinenroller auf dem Genfer Autosalon vorgestellt wird. In Tagträumen kreist er in einem umgebauten Kabinenroller, der seine Räder einklappen und vom Boden abheben kann, durchs Weltall, als Anführer einer Raumflotte vom Planeten „Vulkania“. Als Weltraumhelm trägt er eine Plexiglasröhre, die sein Vater von einer Dienstreise mitgebracht hat, auf dem Kopf.

Der Vater arbeitet als kleiner Angestellter bei einer Wirtschaftsprüferfirma, unermüdlich unterwegs an den Orten des westdeutschen Wirtschaftsbooms zwischen Bremen, Stuttgart und Mannheim. Der Sohn bewundert ihn als modernen Odysseus, als Nachfolger jenes antiken Irr- und Weltenfahrers, den er gerade im Kino in der Inkarnation von Kirk Douglas gesehen hat. Einmal zieht der Vater bei der Rückkehr einen schweren Block Plexiglas aus der Aktentasche, eine „Stele wie aus Stonehenge“, so schön wie sinnlos, die bei keinem Umzug verloren gehen wird.

Das Mitbringsel stammt vom Darmstädter Unternehmen Röhm & Haas, das „sich dem Gedächtnis des Sohnes tiefer einprägt als jede andere Firma“. Der Chemiker Otto Röhm hatte den Kunststoff Polymethylmethacrylat entwickelt und 1933 die Marke Plexiglas eintragen lassen. Seine Firma gehörte zu den Großlieferanten der Luftwaffe und sattelte nach 1945 auf die Herstellung von Abdeckhauben für Phonogeräte, Salatbestecken, Schüsseln und Tourismusnippes aus dem unverwüstlichem Werkstoff um. Plexiglas wurde zum Signet des Fortschritts, der Westen demonstrierte seine Überlegenheit im Plastikrausch. Röhm & Haas, die bei Kriegsende nur noch gut 500 Werktätige beschäftigten, waren 1952 bereits wieder zum expandierenden Betrieb mit 1000 Mitarbeitern aufgeblüht. So weitet sich die Familienchronik immer wieder zum Epochenpanorama.

Was bei Proust die Madeleines sind, Vergangenheitsträger, die einen Erinnerungs- und Assoziationsstrom auslösen, sind bei Rutschky die Merkbücher seines Vaters, Taschenkalender, in die er zwischen 1951 und 1973 Termine, Adressen und Ausgaben eingetragen hat. „Was ist das?“, fragt sich Rutschky ganz am Anfang, als er den in schwarzes Kunstleder gebundenen Notizkalender des vor vierzig Jahren gestorbenen Vaters von 1951 betrachtet. „Ein Monument? Eine Gedenktafel?“, grübelt der Sohn und gibt sich dann die Antwort: „Ein Grabstein für den unbekannten Zeugen seiner Zeit“.

Aber nichts liegt dem Autor ferner, als noch einmal im Stil eines Sozialhistorikers Bielefelder Prägung „Geschichte von unten“ zu erzählen, auch wenn er neben der Vatergeschichte regelmäßig Daten und Ereignisse aus der bundesdeutschen Nachkriegschronik referiert, von der Montanunion mit Frankreich über die Stalin-Note bis zum „Wunder von Bern“. Dafür geht er viel zu verspielt mit den Fakten um. Rutschky schreibt einen Familien- und Gesellschaftsroman, der durchaus auch komische Züge trägt, etwa, wenn er aus dürren Angaben über Ausgaben für „Kaffee, Thee, Schokolade“ und dem Namen „Erna Freiberger“ erotische Abenteuer zusammenfantasiert. „Vater liebte das Dienstmädchenhafte, Ländlich-Ordinäre an dem Namen ,Erna Freiberger’. Aus dem Tabak, den er ihr regelmäßig mitbrachte, drehte sie sich ihre Lullen selbst und rauchte sie aus kostbaren Zigarettenspitzen.“

Der Germanist Erhard Schütz hat Michael Rutschky einen „Lebenszeichendeuter und Zivilitätskundler“ genannt, bei dem „selbst die ausgiebigen Abschweifungen wie kürzeste Verbindungen erscheinen“. Rutschky, dem mit seinem Großessay „Erfahrungshunger“ einst eine zwischen Wissenschaft und Literatur oszillierende Mentalitätsgeschichte der siebziger Jahre gelungen war, erweist sich erneut als Meister des ökonomischen Erzählens.

Glanzstoff: Rutschky feiert die demokratisierende Kraft des Konsumismus

Mitunter schwingt er sich zur lyrischen Emphase auf. Angesichts des väterlichen Notizkalenders von 1954, einem Werbegeschenk der „Vereinigten Glanzstoff-Fabriken“, lässt er sich die kunstseidenen Produkte dieser Firma wie ein Gedicht auf der Zunge zergehen: „Reyon, Perlon, Zellwolle, Nylon, Dralon, Diolen, Resopal“. Wo ein Kulturkritiker den „Aufbau der Plastikwelt“ als Ende des Echten, Authentischen verdammen würde, feiert Rutschky die egalisierende, demokratisierende Kraft des Konsumismus: „Glanzstoff, das ist ein anderes Wort für Poesie (...), die Poesie vermählt sich mit den Strahlen des elektrischen Lichts.“ Die Erfinder, die 1897 ein Verfahren patentieren ließen, wie man Fäden aus Zellulose und Kupferoxid-Ammoniak herstellt – das erfährt der Leser nebenbei –, verwendeten diese Fäden für die Produktion von Glühlampen.

Zeitgeschichte verdichtet sich im „Merkbuch“ zu Anekdotischem. Die Tante, in deren Haus in der nordhessischen Provinz die Familie des Erzählers 1945 unterkam, hat in ihrem Kleiderschrank, verborgen unter Wäschestücken, eine alte Armeepistole versteckt. Damit will sie sich erschießen, wenn die Rote Armee das Städtchen im Zonenrandgebiet erobern würde. Lieber tot als rot. Es sind ärmliche Verhältnisse, in denen Rutschky aufwächst. Im Wald kann er rodeln und Verstecken spielen, aber die Dreizimmerwohnung verfügt weder über eine Zentralheizung noch über fließendes Wasser. Erst 1955, mit dem Umzug in eine komfortablere Wohnung, endet für die Familie die Nachkriegszeit. Eine späte Ankunft im Wirtschaftswunder.

Ab 1956 führen auch Mutter und Sohn nach dem Vorbild des Vaters Merkbücher. Der Sohn beginnt seine Chronik am 1. Januar mit dem Eintrag „Doll gefeiert“ und einer Nachricht aus seinen Science-Fiction-Tagträumereien: „Die Merkurianer haben angegriffen und nichts erreicht.“ Als der Vater ihm seine Notizkalender zeigt und deren Benutzung erklärt, wird das zur Initiation in die Welt der Erwachsenen. Die Liste, heißt es an einer Stelle, sei die älteste aller literarischen Formen. Ohne die Terminlisten seines Vaters würde es den Schriftsteller Michael Rutschky womöglich nicht geben.

Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 274 Seiten, 19,95 €.

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