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Kultur: Milde kann sehr grausam sein

Bei den Salzburger Festspielen wagen sich Martin Kusej und Nikolaus Harnoncourt an Mozarts „Titus“

Wie immer im Leben gibt es auch bei dieser einhellig bejubelten Salzburger Premiere zwei Möglichkeiten. Entweder wir geben uns hier im gnadenlos zynischen Wortsinn „milde“ – oder wir tun es nicht. Entweder wir sehen darüber hinweg, dass Regisseur Martin Kusej Mozarts „Titus“-Oper, dieses von Missverständnissen gebeutelte Spätwerk, nicht eigentlich inszeniert, sondern bloß einpasst ins alles tötende Breitwandformat der Felsenreitschule wie in eine ziemlich behelfsmäßige Aktualisierung aus dem Dunstkreis des 11. September. Oder wir ärgern uns über die himmelschreiend vertane Chance. Entweder wir verdrängen ganz schnell, dass Dirigient Nikolaus Harnoncourt über weite Strecken lediglich lyrischen Wohllaut verströmt und das Bild eines gleichsam verdämmernden, ausblutenden Mozart zeichnet. Oder aber wir erinnern uns schmerzlich an seine Sicht des „Don Giovanni“ vom letzten Festspielsommer, diesen kühnen Rundgang durchs Körperinnere einer Partitur.

Und entweder wir gestehen es uns selbst nicht ein, drei Stunden lang kaum etwas erlebt zu haben – oder wir trauern um die Vorgängerproduktion, um den „Titus“ des Ehepaars Herrmann in seiner apollinischen Heiterkeit, die noch lange in die Welt da draußen, ja ins eigene Leben hineinstrahlte.

Eine deutsche Schweinerei

Natürlich haben wir diese Wahl hier nicht wirklich, und die Sache mit der „Milde“ ist auch nichts als ein fürchterlicher Popanz. Und das gilt auch für Mozart, auch für „La clemenza di Tito“ aus dem Sterbejahr 1791, ein Auftragswerk Leopold II. anlässlich seiner Krönung zum Böhmenkönig – und bei der Prager Uraufführung ein Flopp, ein totaler Reinfall. Der berühmte Kommentar der Kaiserin Maria Luisa, una porcheria tedesca (eine deutsche Schweinerei), trägt längst Flügel und hat eifrig zur Vorurteilsbildung beigetragen.

Indes, was die Kaiserin gehört haben will, ist durchaus aufschlussreich: Nämlich eben nicht die gewünschte Konvention à la Metastasio, nicht den erfüllten Zweck und die räderwerkgleich surrenden absolutistischen Temperamente und Affekte, sondern vielmehr deren ausgehöhlte, ausgeschälte Form. Mozart fällt hier keineswegs hinter sich selbst zurück, indem er eine Leiche fleddert, eben jene von ihm selbst längst überwunden geglaubte Opera Seria, sondern er steckt das Fremde, Neue, Unerhörte in vertraute, allzu vertraute Gewänder.

Der Bruch mit der Tradition geschieht durch die Tradition selbst. Insofern zeigt uns das „glückliche“ Ende dieser Oper, wenn Kaiser Titus allen alles verzeiht, jede Intrige und jeden Verrat, jeden Mordanschlag und jede Brandschatzung, ein äußerst tückisches, weil janusköpfiges Gesicht: Ist’s augenzwinkernder Vollzug und also das richtige Etikett am rechten Fleck? Oder hält die Musik dieses zweiten Finales eine geheime Botschaft bereit, unterläuft sie die Form, hebelt sie sie aus, um den Menschen am Ende im wahrsten Wortsinn bloßzustellen, in seiner hilflosen, naiven, kleinen Menschlichkeit nämlich und bar jeder Gemeinschaft, bar jeden schützenden Systems?

Nikolaus Harnoncourt, der hier weit weniger auf die eklatanten (Ab-)Brüche setzt als auf extrem gedehnte, ja ersterbende Tempi und auf ein dem süffigen Schönklang der Wiener Philharmoniker verpflichtetes Werden im Vergehen, er schweigt sich darüber aus. Und zwar alles andere als beredt. Schade. Weil er vor dieser Partitur, vor dieser Gattung in der Gattung selber ratlos ist? Weil er plötzlich aller Analyse, allem ehedem so ertragreichen Wühlen und Bohren in den Eingeweiden eines Stückes abschwört, im Sinne einer nunmehr erreichten, höheren Weisheit oder Wahrheit?

Man möchte es nicht recht glauben. Dieser Mozart klingt, sieht man von seiner sphinxhaften Getragenheit einmal ab (die den Sängern zuweilen mächtig auf den Lungen liegt!), wie Mozart eben so klingt: Die Ouvertüre federt, die Märsche blitzen und was während der Arien im Graben geschieht, geht nur selten über ein sauberes Stützen und Streicheln von unten hinaus. Vielleicht hat Harnoncourt, die Tür, die er mit seinem „Don Giovanni“ aufgestoßen hat, aber auch nur konsequent durchschritten, und dahinter wohnt nun das Falsche oder zumindest etwas gänzlich Unerwartetes, und wir können dabei nicht folgen.

Trotzdem hätte man sich von ihm mehr erhofft. Dass er auch anders kann, zeigen zwei oder drei Nummern im zweiten Akt, das Terzett von Sesto, Tito undPublio etwa und auch die zweite große Arie des Sesto. Plötzlich schmilzt die Wachsschicht, beginnt die Musik zu reden. Sie schöpft Atem, serviert Modulationen wie auf einem Silbertablett, hört sich selber zu, fragt, lacht, weint und erklärt den Sinn und Unsinn von Koloraturen – als Wahnsinn, Verzückung, Rausch, als Sehnsuchtsgeste der Musik. Und natürlich gelingen Vesselina Kasarova beide Sesto-Arien großartig. Welches stilistische Niveau diese Ausnahmesängerin hält, wie hinreißend sie phrasiert, welches Meer an Farben ihr satter, sinnlicher Mezzo kennt und was sie sich traut: Da laufen einem schon gewaltige Schauder über den Rücken. Dieser Sextus ist ein heillos Zerrissener, einer, der mit klaffendem Herzen durch die Welt rennt und seine Urteilsverkündung nur mehr am Boden liegend ertragen kann (was ein bestrickender Einfall ist), ohnmächtig vor Reue und Schmerz.

Gegen die riesigen Distanzen der Felsenreitschule aber hat auch eine Kasarova zu kämpfen. Wahrscheinlich darf man so etwas im Grunde weder denken noch laut sagen, aber: Der Grad an Verselbständigung, den ihre Kunst inzwischen erreicht hat, dieses Gipfelmaß an Ausdifferenzierung in nahezu allen Belangen des Ausdrucks, es entwickelt langsam auch etwas Bedrohliches. Hier läuft eine Sängerin buchstäblich heiß – befördert vom Dirigenten und von der Regie vor lauter Ehrfurcht noch nicht einmal angetastet in ihrem Potenzial. Ein bisschen Säbelrasseln für die erste Arie, erbarmungsvolles Bibbern und Trippeln für die zweite, das reicht nicht, um einen Menschen zu zeigen.

Der König setzt sich ab

In dieser Hinsicht hatten es die anderen gewiss leichter: Michael Schade, der seinen Titus in aufregender Schwebe hält zwischen somnambuler Gleichgültigkeit und kühlem Zorn, schlägt sich stimmlich bewundernswert durch die heikle Partie (die langen schwerseidenen Röcke übrigens, die Kostümbildnerin Bettina Walter für ihn erdacht hat, stehen ihm ganz ausgezeichnet); Dorothea Röschmann, der man die schneidende Schärfe und den bösen dramatischen Biss der Vitellia kaum zugetraut hätte, die aber in einer beherzten, auch brustigere, grenzwertigere Töne bemühenden „Fiori“-Arie über sich selbst hinauswuchs; Barbara Bonney, deren Servilia insofern interessant ist, als sie nicht das unschuldige Mädel gibt, sondern eine Frau mit Erfahrung – und auch so singt, sehr innig und beseelt; Elina Garanca als Annio, deren voller Mezzo aufhorchen ließ, und Luca Pisaronis ernstlich beflissener Publio. Ein Ensemble, das durch schöne Jugend ebenso für sich einzunehmen weiß wie durch seine durchweg leichten, wendigen Stimmen.

Auch szenisch blitzt im zweiten Finale etwas auf, das der Schlüssel zum Stück hätte sein können. Jedenfalls meint man das, nachdem Kusej und sein Bühnenbildner Jens Kilian drei Stunden lang eine Art Monumentalität des Unfertigen behauptet haben: Rund um das historisierende Marmorherz eines Palastes geht es hier treppauf, treppab in immerneue, immergleiche unverputzte Zimmerschluchten. Ein beständiges Über-, Neben- und Untereinander der Figuren, ohne dass diese sich je berührten. Was als Querschnitt einer gesellschaftlichen Befindlichkeit angelegt gewesen sein mag, mündet allerdings rasch in konventionelle, handwerklich holprige Stellungsspielereien – ob es nun um Sestos sexuelle Abhängigkeit von Vitellia geht, oder ob der Brand des „Kapitols“ von Terroristen mit Fackel und Benzinkanister gelegt wird.

Danach ist der Palast ziemlich verkohlt. Ganz am Ende aber, als „Milde“ waltet, dreht sich Titus ganz langsam auf dem Absatz um und geht. Wieder einmal tut er: das Gegenteil. Zurück bleiben jene, die gemeinsam mit Martin Kusej jeden Glauben an die Kraft des Menschseins und der Musik verloren haben. Die Systemhörigen, die sofort wie Pappkameraden zusammenklappen, wenn die Knute sie verlässt. An sie hätte Mozart sich ganz bestimmt zuletzt verschwendet.

Christine Lemke-Matwey

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