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Kultur: Millionen Isolierte

Nie war die Bewegung so groß wie heute: George Bush bringt weltweit Massendemonstrationen auf die Straße

Es gibt Tage, nach denen sieht die Welt alt aus – und jünger zugleich. Der 15. Februar 2003 war ein solcher Tag. Er wird in die Geschichte eingehen. Nur: Man weiß noch nicht, mit welchem Tenor. Es gehört zur Dialektik des nie dagewesenen Events, dass die Bilder dieses plötzlichen global warmings und warnings ebenso aufrütteln wie beruhigen. Friedenstransparente auf der Akropolis. Eine archaisch anmutende Demonstrationschlange, die sich um das Colosseum in Rom zieht. Menschenmassen auf dem Weg zur Bastille in Paris. Aber auch in Melbourne, Hong Kong, New York, Chicago, Miami und London, in Damaskus und Bagdad wurde die Straße zum Stadion: Mehrere Millionen Menschen, vor allem auch in den USA, schienen von einem olympischen Geist erfasst, und die Botschaft lautete: No war!

Dass niemand mit solch überwältigender Resonanz gerechnet hatte, ist das Mindeste, was man sagen kann. Man wird aber auch feststellen müssen, dass es – und das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen – um mehr ging als um Krieg und Frieden im Irak.

Alt wirkten da mit einem Schlag die Friedensbewegungen und Märsche vergangener Jahrzehnte. Weder der Vietnam-Krieg noch die Nachrüstungsdebatte vor zwanzig Jahren, weder die Gräuel des Balkan-Kriegs noch der erste Waffengang am Golf haben weltweit die Massen derart mobilisiert. Alt sieht für den Moment nicht das alte Europa aus, sondern Washington, die Supermachtzentrale der Neuen Welt samt ihren Anhängern in London und Madrid – auch wenn für die Bush-Gegner noch kein Anlass zur Euphorie besteht. Im Gegenteil: Ein international isolierter US-Präsident könnte sich in die Enge getrieben fühlen und seine Mission unter Umständen noch aggressiver und rücksichtsloser weiterführen.

Man sollte sich erinnern: Auch nach den Terroranschlägen des 11. September haben auf der ganzen Welt und ganz besonders auch in Berlin, am Brandenburger Tor, Hunderttausende Mitgefühl und Solidarität demonstriert. Es ist kein Widerspruch, wenn dieselben Menschen nun mit anderen, scheinbar anti-amerikanischen Parolen durch die Straßen ziehen. Es nimmt der wohl größten Manifestation der deutschen Nachkriegsgeschichte auch nichts von ihrer Wucht und Ernsthaftigkeit, wenn Wichtigtuer und Selbstgerechte wie Verdi-Chef Bsirske oder Pfarrer Schorlemmer und abgehalfterte Barden wie Hannes Wader und Konstantin Wecker sich an die Spitze der Bewegung zu stellen versuchen. Eine Lehre dieses 15. Februar heißt: Diese Demonstranten brauchen keine ausgelatschten Demo-Profis. Sie sind auch nicht angewiesen auf eine überkommene Ästhetik des Widerstands. Bei der gesellschaftlichen Breite des Protestes wäre es auch gar nicht möglich, einen gemeinsamen kulturellen Nenner zu finden.

Als Bob Dylan („With God on our Side“) in den Sechzigerjahren zum Protestsänger ausgerufen wurde, winkte er ab: Er sei nur Künstler. Und in Woodstock wollte er dann auch nicht auftreten. Ähnlich verhält es sich wohl mit der Mehrzahl der Friedensdemonstranten vom Wochenende. Ihre Stärke liegt gerade darin, dass sie keiner Bewegung angehören. Dass man sie weder links noch rechts und auch nicht als Amerikaner oder Antiamerikaner einsortieren kann. Was man staunend beobachtete, war eben etwas anderes: Es hat eine Globalisierung stattgefunden, eine Politisierung jenseits des bekannten und häufig militanten Protests der so genannten Globalisierungsgegner.

Es wurden zwar auch Forderungen laut, doch vor allem wurden – Fragen gestellt. Warum Krieg? Genauer: Warum Krieg jetzt? „I am not convinced – Ich bin nicht überzeugt“. Das Wort von Außenminister Joschka Fischer, gerichtet an den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf der Sicherheitstagung von München, war am Wochenende auf vielen Transparenten zu lesen. Natürlich gab es den üblichen Demo-Humor („Kein Rums ins Feld!“ usw.), aber das verschlägt nicht das Niveau der Fragestellung nach dem Sinn eines Feldzugs, dessen politische, ökonomische, humanitäre Konsequenzen kein Politikerhirn und kein Strategie-Computer berechnen kann.

Offensichtlich haben Bush & Co. ein substanzielles Kommunikationsproblem. Sie sind nicht fähig oder willens, weiten Teilen der Welt die Notwendigkeit eines Angriffskriegs zu erklären. Vom 11. September führt kein nachvollziehbarer Weg nach Bagdad – es sei denn, man würde sich bin Ladens Argumentation zu eigen machen und behaupten, dass Aggression allein mit Aggression zu beantworten sei. Noch ist der Horror des 11. September gegenwärtig: Und viele Menschen scheinen zu spüren, dass man den islamistischen Terror und seine Opfer nicht instrumentalisieren darf, um eine neue Weltordnung per Handstreich durchzusetzen. Diese Furcht treibt sie auf die Straße.

Der Zusammenbruch des Kommunismus scheint nicht vergessen. Mauer und Eiserner Vorhang fielen friedlich. Das ist eine existenzielle Erfahrung, die man sich nicht nehmen lassen will. Was jetzt auf dem Spiel steht, wiegt nicht geringer: eine neue Weltordnung, nach wessen Gusto?

Die Verblüffung bleibt: Warum so viele Demonstranten so plötzlich und so friedlich und so nachhaltig? Der Verdacht, es gehe dem Texaner Bush schon von Hause aus ums irakische Öl, liegt auf der Hand. Damit kommt ein vielleicht entscheidendes Protest-Motiv ins Spiel. Beharrlich weigern sich die USA, internationale Umweltschutzabkommen zu akzeptieren. So bündelt die Furcht vor einem Krieg im Mittleren Osten mehrere nicht unbegründete Befürchtungen. Der Frieden ist, simpel gesagt, ebenso bedroht wie die Umwelt, und es dämmert uns allmählich auch, dass eine kriegerische Konfrontation des Westens mit der arabischen Welt tiefer gehen könnte als die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Der Prophet Mohammed und seine Lehre hat eine andere Verfallszeit als Marx, Lenin und Stalin.

Der Dramatiker Heiner Müller, im Nationalsozialismus und Stalinismus aufgewachsen, hat einmal gesagt, die USA seien das einzige Land, in dem Propaganda wirklich funktioniere. Dagegen richtet sich der so sanfte wie massive Protest des 15. Februar: Man will sich nichts weismachen lassen. Deswegen dürfen sich die Diktatoren in Bagdad und Pjöngjang nichts einbilden. Wenn es denn eine globale Bewegung ist, die wir erlebt haben, dann kann sie sich eines Tages gegen sie richten.

Seltsame Asymmetrie: Während Washington und London behaupten, die Welt vor Massenvernichtungswaffen in den falschen Händen schützen zu wollen, wehren sich Massen auf den Straßen dieser Welt gegen just dieses Schutz-Diktat und Patronat. Freilich, es spricht eine Menge gegen die Annahme, dass die Menschheit, sofern sie sich politisch äußern kann und darf, urplötzlich vernünftig geworden sei. Gehen die Proteste weiter? Lassen sie sich noch ausweiten? Werden nicht die unterschiedlichsten Kräfte nun versuchen, die imposanten Bürgerspaziergänge in eine bessere Welt zu instrumentalisieren?

Zu den vornehmsten Demonstranten gehört der greise polnische Papst in Rom , während sich die Regierung seines Heimatlandes dem amerikanischen Präsidenten andient. George W. Bush sieht man in diesen Tagen oft beim Gebet. Man hatte an diesem größten Friedensaktionstag aller Zeiten bei allem Optimismus, dass die Stimmung kippt, auch das bedrückende Gefühl, dass die neue amerikanische Welt ihre Inspiration aus dem Alten Testament schöpft, während der Rest der Welt es noch einmal mit der alten Christus-Botschaft vom Friedensfürsten versucht.

Rüdiger Schaper

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