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Kultur: Mit den Augen eines Höhlenkinds Amstetten in den USA:

der Roman „Raum“

Jacks Welt umfasst elf Quadratmeter. Sie besteht aus einem Gartenschuppen, den Bleiblech und Isolierschaum in ein schalldichtes Gefängnis verwandelt haben. Eine viereinhalb Meter hohe Hecke hält die Blicke der Nachbarn fern, unter dem Boden ist Maschendraht verlegt. Ein Oberlicht ist der einzige Sichtkontakt zur Außenwelt. Hier, irgendwo in den USA, haust der Fünfjährige mit seiner Mutter. Nur Old Nick kennt den Code für die Sicherheitstür. Sieben Jahre zuvor hatte er Jacks Mutter in seinen Pick-up gelockt und entführt. Als die Studentin aufwacht, ist sie gefangen. Und von da an die Sexsklavin eines Sadisten, der vom Alter her ihr Vater sein könnte. Eine Folge der Vergewaltigungen ist Jack.

In ihrem Roman „Raum“ erzählt die irisch-kanadische Schriftstellerin Emma Donoghue aus Jacks Perspektive eine bewegende Geschichte, die sich über fünf turbulente Wochen erstreckt. Jack, der Ich-Erzähler im Kindergartenalter, strapaziert die Engelsgeduld seiner Mutter und fragt sie Löcher in den Bauch. Er nennt sie „Ma“: Seine ungewohnte, lebensnahe Sprechweise irritiert den Leser zunächst. Doch alsbald wird man eingenommen von seiner Sicht auf die Dinge. Auf den elf Quadratmetern dient ihm der Fernseher mit seinen drei Kanälen als Fenster zu einer unwirklichen Welt. Real sind für ihn nur seine Mutter, die Möbel und die nächtlichen Besuche von Old Nick.

Jack ahnt nichts von dem, was sich außerhalb des Schuppens befindet; darin ähnelt er den Gefangenen in Platons Höhlengleichnis. Und seine Mutter belässt ihn in seiner Unwissenheit, da der Gedanke an die Außenwelt für sie selbst viel zu schmerzhaft ist. Anders als ihr kleiner Sohn, der nichts anderes kennt, erinnert sie sich an die Zeit vor ihrer Isolation und der Entführung mit 19 Jahren.

Jacks Freunde sind die Zeichentrickfiguren im Fernsehen, ebenso manche Gegenstände. Ein simpler sprachlicher Trick: Die Autorin braucht nur auf den bestimmten Artikel zu verzichten, und schon verwandeln sich Objekte in so etwas etwas wie Lebewesen – „Raum“, „Regal“, Fernbedienung“.

Emma Donoghue, 1969 in Dublin geboren, schildert in ergreifenden Szenen, wie die Mutter versucht, ihrem Sohn eine „normale“ Kindheit zu ermöglichen. Sie singen, treiben Sport, lesen die vier Kinderbücher, die Old Nick ihnen zugesteht. An Werktagen schreien sie so laut sie können um Hilfe, nachts sendet die Mutter Leuchtsignale durchs Oberlicht – alles vergebens. Ohne die Bestialität des Entführers zu verharmlosen, konzentriert sich Donoghue auf die Beziehung zwischen Ma und Jack – so ist „Raum“ vor allem ein Roman über die Kraft der Liebe zwischen Mutter und Sohn. Selbst die Vergewaltigungen werden aus der Sicht des Fünfjährigen beschrieben, der aus seinem Versteck im Schrank nur das Quietschen des Bettes mitbekommt. Und sich am nächsten Morgen über die Hämatome am Hals seiner Mutter wundert.

Das alles erinnert nicht von ungefähr an Natascha Kampusch oder den InzestSkandal von Amstetten. Vor allem letzterer diente der Autorin als Anregung. Was Donoghue am Fall des Josef Fritzl besonders berührte, war das Schicksal der drei Kinder, die von Geburt an mit ihrer Mutter im Keller lebten. Als der fünfjährige Felix und seine Geschwister ihr unterirdischen Verlies verlassen konnten, kamen sie ein zweites Mal zur Welt. So ergeht es auch Jack. Mit einer so einfachen wie genialen Idee schaffen die beiden es, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien – eine atemberaubend spannende Flucht.

Doch leicht wird es für Jack und seine Mutter auch in Freiheit nicht. Wie im platonischen Gleichnis fühlt sich Jack vom Feuer geblendet und sehnt sich nach seiner gewohnten Umgebung. Und seine Mutter muss sich damit herumschlagen, dass die Welt im Jahr 2010 eine andere geworden ist. Soziale Netzwerke hat die mittlerweile 26-Jährige noch nie benutzt. Und Jack erlebt andauernd Premieren: den ersten Regen, die erste Erkältung, das erste Mal Treppensteigen. Der Blick durch die Augen dieses Fünfjährigen entwaffnet die Welt. Daniel Grinsted













Emma Donoghue:
Raum. Roman.

Piper, München 2011. 416 Seiten, 19,99 €.

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