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Mark Reeder (rechts) zeigt der TV-Moderatorin Muriel Gray 1984 den Kurfürstendamm.

© B-Movie

Mit Musiker Mark Reeder in Schöneberg: Der Sound der Achtziger in West-Berlin

Der Dokumentarfilm „B-Movie - Lust & Sound in West-Berlin“ erforscht den Pop-Mythos der Hauptstadt. Eine Expedition mit dem Protagonisten Mark Reeder.

Ein Marmorbad! Mit einer tiefen Wanne, dazu wunderschöne Armaturen! Mark Reeder steht vor einem Altbau in der Winterfeldtstraße und beschreibt mit ausladenden Armbewegungen, wie das Badezimmer im vierten Stock vor bald vier Jahrzehnten aussah. Auch der Rest der Wohnung beeindruckte den damals 20-jährigen Mann aus Manchester: „Sechs Zimmer, vier Meter hohe Wände und Stuck – so was kannte ich gar nicht,“ sagt er. Das Haus mit der einst grauen, löchrigen Fassade sollte eigentlich abgerissen werden, was zum Glück nicht geschehen ist. Heute strahlt es in Beige und Ziegelsteinbraun. Als jemand aus der großen grünen Holztür kommt, huschen wir schnell in den Flur. Auch hier Marmor, ein rundes buntes Glasfenster über dem Eingang, liebevolle Holzverzierungen.

Mark Reeder war per Anhalter in diese für ihn völlig neue Galaxis gekommen. Weil er den Zug nach Berlin verpasst hatte, trampte er. Der Fahrer schlug ihm vor, in die Wohnung über seiner WG zu ziehen. Alles umsonst, sogar Gas und Strom waren noch angeschlossen. So wurde aus dem britischen Plattenhändler und ausgebildeten Werbegrafiker für einige Monate ein Schöneberger Hausbesetzer. Der Beginn eines großen Abenteuers. Wie es zwischen 1979 und 1989 weiterging, kann man jetzt in dem wunderbaren Dokumentarfilm „B-Movie – Lust & Sound in West-Berlin“ von Jörg A.Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange sehen, der seine Premiere im Panorama-Programm der Berlinale hatte und sofort zu einem Kritikerliebling avancierte.

Alle redeten schlecht über Berlin - das fand Reeder spannend

Mark Reeder war wegen der Musik nach Berlin gekommen. Er wusste, dass David Bowie hier „Low“ aufgenommen hatte und es spannende Bands wie Tangerine Dream gab. „Außerdem hatte auf meinen vorherigen Deutschlandreisen nie jemand gut über die Stadt geredet. Alle fragten, was ich da bloß wolle. Das hat mich fasziniert“, sagt Reeder. Ein weiterer Grund für seinen Abschied aus Manchester: Er war völlig ausgebrannt und brauchte eine Auszeit. Nachdem er seinen Job als Werbegrafiker gekündigt hatte, begann er Vollzeit im Virgin-Plattenladen zu arbeiten. Eigentlich ein Traum: So nah an der neuen Musik, der Lohn wurde zum Teil in Vinyl gezahlt. Reeder war schon als Kind „total besessen von Musik“, kaufte seine erste Platte mit vier und wurde später von seinem älteren Cousin mit in die Abhörkabinen des Plattenladens genommen, lernte The Doors, Jimi Hendrix und Pink Floyd durch ihn kennen.

Als er dann endlich selbst an der Quelle war, verschwanden plötzlich seine Kollegen – der Hippie ging nach Indien und die Frau ins Krankenhaus. „Ich arbeitete den ganzen Tag ohne Pause. Virgin sagte, dass sie leider keine Verstärkung schicken könnten, legten dafür den Plattenpaketen Speed bei. Es war heftig.“ Abends ging er aus oder spielte Bass bei der Punkband Frantic Elevators, deren Sänger Mick Hucknall später mit Simply Red berühmt wurde. Sobald die Gruppe einen Ersatz für Reeder hatte, war er weg.

Blixa Bargeld gibt dem englischen Fernsehen ein mauliges Interview

In West-Berlin wurde der Mann mit den strahlend blauen Augen, der hellblonden Seitenscheitelfrisur und dem Uniformfetisch bald Teil der neuen alternativen Musikszene, was „B-Movie“ in einer Mischung aus nachgestellten Szenen und Dokumentarmaterial erzählt. Am stärksten sind die Aufnahmen, die ein englischer Fernsehsender von und mit Reeder ab Mitte der Achtziger gedreht hat. Die Bänder lagen jahrelang unbeachtet bei Reeder zu Hause. Er gab sie Jörg A. Hoppe, der ihn um Surround-Mixe für eine West-Berlin-Doku gebeten hatte. Als der Regisseur das Material sah, verwarfen er und seine beiden Kollegen ihr ursprüngliches Konzept und machten Reeder zum Protagonisten. Ein genialer Zug, denn so bekommt die eigentlich auserzählte Geschichte einen neuen Dreh – und englischen Witz.

Er organisierte das einzige Berlin-Konzert von Joy Division - ein Debakel

Musiker, Produzent, Schauspieler und Autor Mark Reeder kam 1978 von Manchester nach Berlin.
Musiker, Produzent, Schauspieler und Autor Mark Reeder kam 1978 von Manchester nach Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die TV-Bilder zeigen Reeder als Führer durch die Berliner Nacht. Mit der Moderatorin Muriel Gray besucht er etwa das Risiko, wo sie im Vorbeigehen ein Gespräch mit Christiane F. führen. Reeder vermittelt Gray herrliche Interviews mit dem jungen Farin Urlaub und dem schön mauligen Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten. Und natürlich kommt auch der Dschungel vor, laut Reeder damals der coolste Laden der Stadt. Mit dem Fahrrad sind es nur ein paar Minuten von seiner ersten Wohnung zu dem legendären Club in der Nürnberger Straße. Wir schauen durch die Scheiben des schicken Restaurants, das jetzt hier seinen Sitz hat. „Alles total umgebaut“, sagt Reeder und deutet in die Richtung, wo einst die Tanzfläche war. Ideal haben den Dschungel besungen und vor zwei Jahren auch David Bowie in seinem West-Berlin-Song „Where Are We Now“. Reeder erinnert sich, dass der Musiker gern in der oberen Etage Platz nahm. „Aber unten war es aufregender“.

Im armen Manchester war Punkrock ein Versuch der Misere zu entkommen

Aufregend – Mark Reeder benutzt das Wort häufig, um das Berlin der Achtziger zu beschreiben. In seinem nur von einem leichten Akzent angehauchten Deutsch erklärt er, was ihn an der eingemauerten Stadt so anzog, die zwar noch heruntergerockter aussah als Manchester, aber von einer ganz anderen Energie erfüllt war: „Bei uns machten die Fabriken zu, die die industrielle Revolution getragen hatten. Die Leute waren arbeitslos, Jugendliche bekamen keine Ausbildungsplätze.“ Punkrock sei der Versuch gewesen, dieser Misere zu entkommen. „Die Hoffnung war, vielleicht einen Hit zu schreiben und nach London ziehen. Ganz anders Berlin: Die Stadt war schon der Fluchtort. Deshalb konnten die Leute hier eine andere Art von Musik machen und sich ohne Rücksicht auf Erfolg einfach nur selbst ausdrücken.“ Das wirkte so reizvoll auf Reeder, dass er ständig ausging, weil er nichts verpassen wollte. In der kleinen Szene übernahm er bald diverse Jobs: Er wurde Sound-Mixer, spielte in Horrorfilmen von Jörg Buttgereit mit und war der Roadie, Manager und Mixer der Band Malaria. Reeder machte auch selbst Musik, unter anderem in der New-Wave-Band Shark Vegas, von der in „B-Movie“ einige schrille Videoszenen zu sehen sind.

Reeder spielte auch in der Technozeit eine wichtige Rolle in Berlin

Ein weiterer von Reeders Jobs bestand darin, das damals noch unbekannte Manchester-Label Factory Records in Deutschland zu repräsentieren, was erst mal nicht sonderlich gut funktionierte. So organisierte er im Januar 1980 das einzige Berlin-Konzert von Joy Division im Kant- Kino, das nicht mal halb voll war. „Zudem war der Sound schlecht, die Leute konnten Ian Curis’ Stimme nicht hören. Als ein Zuschauer ,lauter, lauter‘ rief, antwortete Bernard Sumner: ,Speak fucking English you german bastard‘. Ab diesem Moment war die Stimmung im Keller,“ so Reeder. Einige Monate später brachte sich Curtis um. Für Reeder, der ihn seit Teenagertagen kannte und Joy Division für die beste Band der Welt hielt, eine kaum zu verkraftende Horrormeldung. Von da an gab es überhaupt keinen Weg mehr zurück nach Manchester – sein letzter Hoffnungsschimmer dort war verschwunden.

Berlin wurde indes immer hipper, auch Nick Cave zog her und wohnte erst mal bei Reeder in Kreuzberg. Ein anstrengender Mitbewohner sei der Australier gewesen, erzählt er lachend. Und übrigens überhaupt nicht so ein Blixa-Schatten, als der er in Oskar Roehlers Berlin-Film „Tod den Hippies! Es lebe der Punk!“ erscheint. Dieses schiefe Bild habe ihn schon ein bisschen traurig gemacht, sagt Reeder, der nach wie vor Uniformen bevorzugt. Zum Gespräch ist er in hohen Stiefeln und einer Art Sternen-Flotten-Kapitänsoutfit erschienen. Seine mittlerweile grauen Haare trägt der 57-Jährige weiterhin streng gescheitelt. Und auch seine Meinung zu Berlin, dessen Ost-Teil er damals regelmäßig besuchte und mit Musik versorgte, ist unverändert positiv. Schließlich herrschten hier immer noch freies Denken, Toleranz und hohe Lebensqualität. „Berlin war schon immer eine grande illusion. Du kannst hier finden, was du willst,“ sagt er und gibt sich völlig unsentimental, was die Achtziger angeht.

Reeder, der auch in der Technozeit unter anderem mit einem eigenen Label kräftig mitgemischt hat, wohnt inzwischen am Südstern, geht noch gelegentlich aus und konzentriert sich derzeit auf seine eigne Musik. Mit freundlichen Gelassenheit schaut er auf die musikalische Zukunft der Stadt und hofft, dass „B-Movie“ die Berlin-Neuankömmlinge von heute inspiriert. Einfach mal machen und sehen, was passiert. Ohne Rücksicht auf Verluste oder Erfolge.

„B-Movie – Lust & Sound in West-Berlin“ läuft im Babylon Kreuzberg, Delphi, Filmrauschpalast und International.

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