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Kultur: Mit Springerstiefeln

Wenn Frank Castorf richtig gut Klavierspielen könnte, er würde vermutlich eine Chopin-Interpretation genauso angehen wie Ivo Pogorelich: als freie Improvisation über den Notentext, als Piano-Performance.Mit der Selbstsicherheit des über alle technischen Zweifel erhabenen Viruosen nimmt sich der 41jährige Pogorelich jede Freiheit für seine Neudeutungen.

Wenn Frank Castorf richtig gut Klavierspielen könnte, er würde vermutlich eine Chopin-Interpretation genauso angehen wie Ivo Pogorelich: als freie Improvisation über den Notentext, als Piano-Performance.Mit der Selbstsicherheit des über alle technischen Zweifel erhabenen Viruosen nimmt sich der 41jährige Pogorelich jede Freiheit für seine Neudeutungen.Die Pianist will nicht als nachschöpfender Übersetzer dem Komponisten dienen, er begnügt sich niemals damit, einfach nachzuspielen "was dasteht".Pogorelich will demonstrieren, was für ihn zwischen den Notenzeilen verborgen steht - und dafür sind ihm die extremsten Mittel gerde recht.Das ist zeitgemäß, postmodern, dekonstruktivistisch und für alle, die sich darauf einlassen mögen, eine Abenteuerreise.Für alle anderen eine Tortur.

Die Polonaisen c-Moll und fis-Moll, vor allem aber die b-Moll-Sonate sind für Ivo Pogorelich Werke eines Komponisten, der sich nahe am Wahnsinn bewegt: Die innere Zerrissenheit Chopins, die auch andere Pianisten in ihren Interpretationen spiegeln, steigert er bis zum Delirium.Wie im Opiumrausch, seiner Sinne nicht mehr mächtig, taumelt Pogorelichs Chopin durch den Klangdschungel.Die Architektur der Sätze, die Bögen der Melodien, alle Zusammenhänge sind zerstört, es gibt keinen Puls, kein Atem mehr in dieser Musik, nur noch Bruchstücke eines genialen Gedankengebäudes: Pogorelich rennt los, bremst abrupt, hechelt, hält die Luft an, tritt den Baß mit Springerstiefeln, um im nächsten Moment auf unbeschuhten Zehenspitzen weiterzuschleichen.Anders als bei den Stückzertrümmerungen in der Volksbühne kommt allerdings kein Kartoffelsalat zum Einsatz.

In den Mazurken op.59 und der späten h-Moll Sonate entdeckt Pogorelich dann die Langsamkeit des melodischen Seins, eine Musik am Rande des Stillstands.Ton für Ton gebiert seine rechte Hand, zögernd schälen sich die Motive heraus, Melodien verlieren sich in der Weite der dünnbesiedelten Seelenlandschaft.Und die fast ausverkaufte Philharmonie gibt sich, gespannt lauschend, dem Zeitlupen-Chopin hin.Ein exzentrisches Experiment, das an Marthalers textliche Wiederholungs-Schleifen erinnert: Wie weit kann ich um meiner Botschaft willen in der Provokation des Publikums gehen? Sehr weit.Riesenjubel.

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