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Mo Yan wurde 2012 vom Nobelpreiskomitee geehrt. Die Entscheidung war umstritten.

© REUTERS

Mo Yan: Von Kadern und Kaulquappen

In seinem Roman „Frösche“ erhellt der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan die Ära der strikten Ein-Kind-Politik.

Herta Müller bekannte, sie sei den Tränen nahe gewesen, als sie die Nachricht von der Verleihung des Literaturnobelpreises an Mo Yan vernahm. Sie empfinde die Wahl als „Ohrfeige für alle, die für Demokratie und Menschenrechte arbeiten“. „Eine Schande, ein tragischer Moment“, urteilte auch der Künstler Ai Weiwei. Statt linientreuer Prosa entdeckt man in Mo Yans Werken aber Romane, die sich wortgewaltig den Traumata der chinesischen Geschichte widmen, vom Boxeraufstand in der furiosen „Sandelholzstrafe“ über die vom offiziellen Geschichtsbild abweichende Darstellung der japanischen Besatzung in „Rotes Kornfeld“ bis zur Kulturrevolution.

Mo Yans Panoramen verleihen den Epochen des Schreckens blutrünstige Anschaulichkeit, auch wenn sie die Schrecken ins Burleske wenden. So auch im neuen Roman „Frösche“. Da ist eingangs von dem alten Brauch die Rede, den Kindern die Namen von Körperteilen zu geben: Chen Nase, Wu Dickdarm oder Wang Galle. Damit ist ein komödiantischer Ton angeschlagen, der sogleich in Dissonanz gerät mit Ereignissen aus der Zeit der Hungersnot während des „Großen Sprungs nach vorn“: Eine Gruppe von Schülern macht sich über einen Haufen Kohlen her. Sie knabbern, kauen und schlucken die offenbar nahrhaften Brocken so gierig, als wäre es eine neuartige Delikatesse.

„Frösche“ hat eine Rahmenfiktion, die als versöhnlicher Brückenschlag zwischen China und Japan inszeniert ist. Erzählerfigur ist ein Theaterschriftsteller namens Wan Fuß, auch „Kaulquappe“ genannt; er richtet seine Worte an einen japanischen Kollegen. Die Hauptfigur ist eine Frau mit Klasse, beziehungsweise Klassenbewusstsein: Gugu, die Tante des Erzählers. Seit den 50er Jahren holt sie als erste westlich geschulte Hebamme und Gynäkologin in der Region Nordost-Gaomi an die 10 000 Säuglinge auf die Welt. Sie versteht sich als Kraft des Fortschritts gegenüber den althergebrachten Wehmüttern, die den Bauch der Schwangeren mit dem Nudelholz bearbeiten, um die Geburt voranzutreiben.

In den Jahren der Hungersnot gibt es für Gugu wenig zu tun. Die Frauen bekommen ihre Regel nicht mehr, die entkräfteten Männer haben das Interesse an Liebesfreuden verloren. Ab 1962 ändert sich das wieder, postkatastrophaler Lebensdrang macht sich geltend, auf den Fortpflanzungsknick folgt der Babyboom. Die Politik begegnet dem Bevölkerungswachstum mit Restriktionen. Chinas EinKind-Politik kommt auf den Weg, und Gugu übernimmt die Leitung einer Gruppe für „geregelte Familienplanung“.

Da ergibt sich manche komische Szene über zweckentfremdete Verhütungsmittel und zeugefreudige Bauern, die mit Polizeieinsatz zur Sterilisation gebracht werden. Mo Yans immer deftig körperwarme, säftefreudige Prosa ist dabei in ihrem Element. Die Ein-Kind-Politik als Thema eines Romans – das klingt zunächst wenig aufregend, wo hierzulande Null- bis Ein-Kind-Ehen sowieso selbstverständlich sind. Was für ein gewaltiger, gewaltsamer Erzählstoff darin liegt, wie sehr diese Politik Unheil hervorruft, zeigt der Roman, wenn er die pflichteifrige Tante Gugu im Kampf gegen unerlaubte Schwangerschaften schildert. Aus der Medizinerin im Dienst des Lebens wird eine gefürchtete „Todesdämonin“. Mit ihrem Einsatzkommando verfolgt sie die Schwangeren, spürt sie in Verstecken auf, in Süßkartoffelkellern, Brunnen oder Erdlöchern. Es sind beklemmende Jagden; in einer Szene wird eine verzweifelt davonschwimmende Schwangere mit dem Boot gehetzt, bis sie im Wasser verblutet.

Schließlich trifft es Renmei, die große Liebe und Ehefrau des Erzählers Kaulquappe. Als Mitglied von Armee und Partei bekommt er eine Sonderzulage zum Sold, sofern er es pflichtgemäß bei einem Kind bewenden lässt. Nun ist das zweite unterwegs. Er wird nach Hause geschickt, um die Abtreibung durchzusetzen. Andernfalls drohen Disziplinarstrafe, Parteiausschluss, Entlassung aus der Armee. Damit ändert sich der Ton der Darstellung; sie wird verinnerlicht zu einer höchstpersönlichen Gewissensangelegenheit, die den Autor nicht mehr loslassen wird – Kaulquappe wie Mo Yan selbst. Er habe Schuld auf sich geladen, als er seine Frau aus Karrieregründen zur Abtreibung zwang, verriet er in einem Interview.

Mit ihrer Spezialeinheit kommt die Feldherrin der Geburtenkontrolle ins Dorf, um Renmei aufzuspüren, die sich im Haus ihrer Eltern versteckt hat. Sie solle herauskommen, sonst würden zunächst die Häuser der Nachbarn, dann auch das ihrer Familie planiert. Gugu übernimmt bereitwillig die Rolle der Bösen und Verhassten, die mit der Unmenschlichkeit im Kleinen die Menschlichkeit im Großen anzustreben glaubt. Und die Nachbarn, kleine Unmenschen, sammeln Maisstrohgarben, um das Haus der Eltern in Brand zu stecken. Renmei ergibt sich schließlich, um bald darauf bei dem „kleinen Eingriff“ zu sterben.

Die Gegner Mo Yans machen auch hinter seinen kritischen Zügen politische Defizite aus

Eine dichte Froschmotivik durchzieht den Roman. Während der großen Hungersnot haben viele Menschen Frösche gegessen; Frösche und Kaulquappen sind Fruchtbarkeits- und Sexualsymbole. Im Original erhält diese Gleichsetzung verstärkte Suggestivität, weil die chinesischen Schriftzeichen für „Baby“ und „Frosch“ gleich ausgesprochen werden. In einem langen Albtraum, einem veritablen Horrorszenario, wird Gugu von Abertausenden von schleimigen Fröschen verfolgt und überkrochen.

Die Kritik an unfähigen Kadern und Beamten spielt in „Frösche“ eine wichtige Rolle. Da gibt es „Sexgurke“, den Leiter von Gugus Krankenstation. Fachlich ist dieser Mediziner eine Niete; er kann nicht einmal Blut abnehmen, weil er die Vene nicht findet. Lieber fühlt Sexgurke jungen Krankenschwestern den Puls. Er schwängert eine 17-Jährige und fordert Gugu auf, die Abtreibung vorzunehmen. Da endlich ist für die Tante eine Grenze überschritten. Hier, wo es nicht mehr um das höhere Ziel der Geburtenkontrolle geht, sondern um Sexgurkes niederes Vergnügen, will sie nicht mehr. Nach Tausenden von Abtreibungen verfolgt sie längst das Gurgelgeräusch der Saugglocke.

In der zweiten Hälfte beschreibt der Roman mit satirischen Spitzen, wie das rückständige Gaomi-Land im Zeichen des Wirtschaftsbooms ein neues Gesicht bekommt. Auf vormaligen Äckern entstehen Fabriken oder Golfplätze. Kleine Landwirte mutieren im Zeichen der gelockerten Privatwirtschaft zu großen Unternehmern, ihre Frauen verströmen den Duft teurer Parfums. Und anstelle der Schwangerenhatz gibt es nun eine luxuriöse chinesisch-amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik für die Neureichen; die windelweiche Erbauungsprosa der Werbetexte erscheint wie schwarzer Hohn auf all die Quälereien zuvor. Schulfreunde von Kaulquappe, die über Jahre zur Umerziehung im chinesischen Gulag verschwunden waren, versuchen den Neuanfang, wie sein Cousin Yuan Backe, der nun Geschäftsführer einer Froschzuchtfarm wird. Und auch hier ergeben „Frosch“ und „Baby“ wieder einen Zusammenklang, denn in Wahrheit ist diese Froschzuchtfarm die Tarnung für ein illegales Kinderwunschzentrum. So ganz anständig geht es also doch nicht zu. Von einer Brandkatastrophe schwer entstellte Frauen dienen als künstlich befruchtete Leihmütter. Das Wühlen in der Schuld und die Zeremonien des Kinderwunsches, die teils komödienhaft, teils sentimentalisch inszeniert werden, wirken wie eine zwanghafte Kompensation der Abtreibungsexzesse zuvor.

Die letzten 100 Seiten bestehen aus dem Stück, das der Erzähler dem japanischen Brieffreund ankündigte und das die Motive des Romans zur theatralischen Reprise verdichtet. Die Komposition ist postmodern verwildert, mancher Winkelzug der Handlung wirkt gezwungen. Trotzdem zieht „Frösche“ in den Bann mit grotesken, erschütternden Szenen.

Die Gegner Mo Yans machen indessen auch hinter den kritischen Zügen seiner Werke politische Defizite aus. Die freizügige, derbsinnliche Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität: Soll sie womöglich andere Unfreiheiten kaschieren? Attacken auf korrupte Kader: Hören wir da nicht das alte Lied von den Fehlern Einzelner und der Unfehlbarkeit der Partei? Und der burleske Humor? Soll durch ihn der Sprengstoff heikler Themen entschärft werden? In solcher Manier ließen sich noch alle Tabubrüche und moralischen Anklagen in den Werken Mo Yans ins Gegenteil verkehren. Aber das wäre keine Literaturkritik, sondern Inquisition. Da hat ein Schriftsteller tausende Seiten außerordentlicher Prosa geschrieben. Aber seine Kritiker tun so, als sei alles nur Ausflucht, und warten auf rituelle Regimekritik. Gegen solche Anmaßungen empfiehlt es sich, Mo Yan erst einmal zu lesen. Eine ebenso befremdliche wie faszinierende Anderswelt tut sich auf, ein Jahrhundert der Umbrüche und Exzesse – und der oft gar nicht so verschiedenen Menschennöte am anderen Ende der Welt.

Mo Yan: Frösche. Roman. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Carl Hanser Verlag, München 2013.512 Seiten, 24,90 €.

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