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Säulen und Serenaden. Beim Festival auf der Insel Lesbos geht es leger zu.

© Molyvos Festival / Thomas Karanikas

Molyvos-Festival auf Lesbos: Herzkammermusik

Flüstern der Geschichte: Beim Kammermusik-Festival Molyvos auf der griechischen Insel Lesbos treffen junge Musiker den richtigen Ton in schwieriger Zeit.

Das Sternbild des Großen Wagens blitzt in der Sommernacht. Es geht auf Dionysos zurück, den berauschten Wanderer und Unruhestifter. Die griechischen Mythen entstehen beim Zusammentreffen von Natur und Kultur, sie entspringen dem Meer, dem Himmel, den Bergen, aber auch schon den Städten. Als Dionysos einmal auf der Erde eine Bleibe suchte, fand er endlich, nachdem ihm viele Menschen die Tür gewiesen hatten, bei einem Hirten Unterkunft und Verpflegung. Zum Dank schenkte er dem armen Mann den Wein.

Die anderen Hirten betranken sich mit dem unbekannten Stoff, gerieten in Panik und glaubten, der Gastgeber des Dionysos habe sie vergiften und ihre Tiere stehlen wollen. Sie erschlugen den hilfsbereiten Mann. Götter wissen nicht, was sie bei den Menschen anrichten. Zur Erinnerung heftete Dionysos den Karren des freundlichen Hirten an den Himmel. Die Geschichte ging nicht gut aus, trotzdem ist sie ein Denkmal der Gastfreundschaft. Denn es kommen meist keine Götter, sondern Menschen, die Hilfe brauchen.

Mitte August sind die Nächte von Molyvos voller Musik. Ein Füllhorn der Kammermusik unter freiem Himmel, vor vier- oder fünfhundert Besuchern auf der Burg hoch über der Ägäis; die Anlage stammt aus byzantinischer Zeit. Die griechische Fahne knattert im Wind. Gegenüber die Lichter der türkischen Küste, keine zehn Kilometer entfernt. Das Festival auf der Insel Lesbos hat in seinem dritten Jahr die Überschrift Katharsis, also Reinigung, Läuterung. Der Begriff stammt aus der Dramentheorie des Aristoteles und stellt allerdings schon für das heutige Theater ein Problem dar.

Katharsis durch Kunst?

Ob und wie Musik kathartisch wirken kann, darüber haben Musiker und Zuhörer in diesen bestirnten Nächten leidenschaftlich diskutiert. Wie soll das gehen, wenn nach wie vor Flüchtlinge in den Lagern von Lesbos festsitzen, wenn auch immer noch, in weit geringerer Zahl, Menschen über die Meerenge kommen und ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn der türkische Präsident im Großen und im Kleinen seine Tyrannei ausübt, wenn in Barcelona ein Lastwagen in eine friedliche Gruppe von Menschen rast und viele tötet, wenn die Welt so ist, wie sie ist, und jeden Tag noch mehr so ist, so gewalttätig – wie kann da man von Katharsis durch Kunst reden?

Es setzt ja voraus, dass die Tragödie an ein Ende käme. Ein griechischer Musikkritiker fühlt sich von Erdogans Kriegsrhetorik gegenüber den Nachbarländern bedroht. Für ihn ist Lesbos europäischer Außenposten, markanter Punkt für Freiheit und Zivilisation. Er vergleicht die Insel mit Marathon, erinnert an die Perserkriege, als ein paar Griechen das große Invasionsheer aus dem Osten entscheidend aufhielten. Sich opferten.

Stille nach einer verstörenden, berührenden Aufführung

„Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist“, schreibt Julian Barnes in seinem Roman über den sowjetischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch. „Der Lärm der Zeit“. Er ist zu hören in den Stücken dieses Festivals an dem so besonderen Ort. Dieses Flüstern wird vernehmlich, als drei junge Musiker mit russischen Wurzeln und ein Pole Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 auf die Reise schicken, eine Meditation über den Terror im Zweiten Weltkrieg, auf beiden Seiten. Ungeheuerlich schön, ungeheuerlich still.

Und als darauf Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ erklingt – Klagen, Hoffnungsfetzen, Phasen der Auflösung, des Verstummens, schwebende Partikel – geht das Publikum ohne Applaus davon. Kiveli Dörken, eine der Gründerinnen und Direktorinnen des Festivals von Molyvos, hatte um Stille nach der Aufführung gebeten. Es wäre nicht nötig gewesen. Messiaen schrieb das 50-minütige Stück – eine zerrissene Ewigkeit – in einem Nazi-Arbeitslager. Selbst wenn man das nicht weiß, verstört diese Musik. Sie löst Schwindel aus, auch Impulse der Abwehr und einen tiefen Schrecken, wie der Wein des Dionysos. Herzkammermusik.

Musik, Metamorphose

Der Wind frischt auf. Notenblätter fliegen von der Bühne, die meisten Musiker gehen nachher dazu über, mit einem iPad auf dem Notenständer zu spielen. Und dann weht es so stark über die Burg, dass sich die Flötistin Daniela Koch bei Debussys „Syrinx“ wegdreht und dem Publikum die Schulter zeigt. Um des Klanges willen, wie sie nachher sagt. Aber wie schön passt ihre Bewegung zur Geschichte der Najade, die vor dem aufdringlichen Pan flieht und sich in ein Schilfrohr verwandelt, aus dem die Flöte entsteht. Griechische Mythen sind reich an Männerfantasien und um ein gutes Ende bemüht. Ein Gott benimmt sich schlecht, und heraus kommt etwas Neues. Musik, Metamorphose.

Die äußeren Einflüsse zu spüren bei diesen elektronisch verstärkten Konzerten, das hat etwas Natürliches, Befreiendes. Blasinstrumente heißen im Englischen ohnehin winds. Man denkt dabei an John Cage, der wusste, dass es Stille nicht gibt. Geräuschlose Räume existieren nicht. Da ist immer eine Resonanz der äußeren Welt. Geschichte, Politik, die Dinge der Menschen schwingen mit. Die Ernsthaftigkeit des Open-air-Programms von Molyvos hat gutgetan.

Sinnliche Intellektualität statt protestantischer Strenge

Es ist ein junges Festival in jeder Hinsicht. Die meisten Musiker sind um die dreißig, haben berühmte Mentoren und Preise gewonnen, wie die Geiger Hyeyoon Park, Alissa Margulis, Linus Roth und Kirill Troussov, der die Stadivari spielt, mit der 1881 Tschaikowskys Violinenkonzert uraufgeführt wurde. Sebastian Manz ist ein weicher, melodramatischer Klarinettist. Nachmittags am Hafen, beim improvisierten Auftritt, begleitet er die Sopranistin Marlis Petersen. „Der Hirte auf dem Fels“: Schuberts Weltschmerz schmilzt bei ihr dahin. Eine Katze streicht um die Beine der Sängerin, ein kleiner Junge hält sich die Ohren zu. Diese Intermezzi am Strand und im Städtchen machen den speziellen Charme aus.

Marlis Petersen gehört zum Board of Advisors in Molyvos. Ihr Auftritt mit Johann Sebastian Bachs „Mein Herze schwimmt im Blut“ setzt zum Auftakt auf der Burg den Ton. Leid und Schmerz und Reue, psychische Qualen: Marlis Petersen interpretiert die Entfernung von Gott, die Sünde, mit einem Rest von Genuss in den blitzenden Augen. Eine Frau kämpft mit den Folgen von etwas, das sie lieber nicht getan hätte, aber vielleicht wieder tun würde. Bachs Kantate bekommt die Klarheit und Härte eines Lehrstücks von Brecht.

Will man das hören an einem griechischen Sommerabend? Ja, wenn Marlis Petersen es singt. Aus protestantischer Strenge und Zerknirschung wird sinnliche Intellektualität. Zum Abschluss schmettert sie Mozarts „Exsultate, jubilate“, leicht und frei wie ein Vogel, frech wie ein Popsong.

Viele Freiwillige ermöglichen das Festival

Ob Boccherini mit Hard-Rock-Angang oder tänzerischer Xenakis: Die vier Tage von Molyvos zeigen, dass ein Festival mehr sein kann als ein – Festival. Das Wort hat sich entleert, es bezeichnet schon nicht mehr das Besondere, sondern den Alltag. Festivals gibt es inzwischen überall und rund ums Jahr. In Molyvos kann man darüber einmal grundsätzlich nachdenken. Es gehört dazu, sich als Besucher auf ein Festival vorzubereiten. Die Wahrnehmung verändert sich, wenn man sich auf einen Weg macht, ausgeruht. Konzentration hilft, die Abwertung des Erlebens von Kunst, von Musik im normalen Betrieb zu stoppen.

Und was das vordergründig Politische betrifft: Ist es nicht seltsam, wie häufig sich die Kunst unter freien und demokratischen Bedingungen aktionistisch selbst einschränkt? Wie reflexhaft der Kulturbetrieb auf Nachrichten reagiert? Wie unfrei der Umgang mit sozialen Medien machen kann und wie viel Freiheit, gedehnte Zeit in einem Streicher-Oktett des sechzehnjährigen Felix Mendelssohn-Bartholdy steckt. Noch einmal Julian Barnes und sein Schostakowitsch: „Er schrieb Musik für die Ohren, die fähig waren zu hören. Und darum wusste er, dass jede wahre Definition der Kunst zirkulär ist und jede unwahre Definition der Kunst ihr eine spezifische Funktion zuschreibt.“ Der Lärm und die Zeit sind die Bedingungen, aber nicht das Geheimnis, die DNA, die Kraft der Musik.

Sie dreht sich in Molyvos um Menschen. Das beginnt bei der Ankunft auf Lesbos. Der Fahrer, der die Gäste am Flughafen abholt, stammt aus Holland und lebt jetzt auf der Insel. Zur Probe, wie er sagt. Frank gehört zu den vielen Freiwilligen, die das Festival ermöglichen. Im Sommer 2015 ist er mit ein paar Freunden gekommen, organisierte eine private Hilfsaktion, um den Geflüchteten beizustehen. Es war glühend heiß, die Fremden hatten kein Wasser, mussten viele Kilometer bis zur Sammelstelle laufen.

Musik löst keine Probleme, aber schafft Gemeinschaft

Die Griechen auf der Insel sind gespalten, was das alles betrifft. Viele fürchten um ihre Existenz. Sie haben selbst nicht viel. Frank kann das verstehen. Er arbeitet daran, dass es anders wird. Jetzt ist er also wieder da, arbeitet von hier aus im IT-Bereich, ein neues Leben. Dazu gehört das Engagement für die Geflüchteten genauso wie der Fahrdienst beim Festival. Musik löst keine Probleme, aber die berührenden Konzerte, die Qualität der Künstler, der große Publikumszuspruch – all das schafft ein Gefühl von Gemeinschaft. Und Stolz.

Langsam steigt die Zahl der Touristen auf Lesbos wieder. Sie werden dringend erwartet, die Inselökonomie hängt davon ab. Neuerdings kommen auch mehr Gäste aus der Türkei. Was ja verdammt nahe liegt.

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