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Kultur: Moment der Wahrheit

Vor zehn Jahren starb der russische Jahrhunderttänzer Rudolf Nurejew an Aids. Eine Erinnerung

Nurejew: Tänzer, Choreograf, Ballettdirektor. Er hat immer auf ein Äußerstes und Höchstes gezielt. Er hat die Position des Tänzers für die ganze Form, für das Ballett, neu definiert, er hat unser Verständnis für das Erbe der tänzerischen Klassik erweitert und vertieft, und er hat Paris auch für Nichtfranzosen wieder zu einer Ballettmetropole gemacht. Das Zeitlose, das Unvergängliche an Rudolf Nurejew ist eine Wirkungsgeschichte, die ihn nicht nur einreiht unter die Großen der Tanzkunst, sondern hinaushebt in die Dimension der Legende. Niemand hat in der Geschichte des Balletts Vergleichbares zur Popularisierung dieser Kunst beigetragen. Es gibt in meinen Augen nur eine Persönlichkeit, die ihm vergleichbar ist: Maria Callas. Beide Namen stehen längst nicht mehr für sich allein, sie sind vielmehr zu Synonymen geworden für ihre Künste, die Oper und das Ballett, und beiden gemeinsam ist auch, dass sie weiterwirken über ihren Tod hinaus.

Tatarischer Sturm

„Kennen gelernt“ habe ich Rudolf Nurejew ziemlich früh. Am 1. August 1959 wurde ich im Wiener Raimundtheater Zeuge einer tänzerischen Veranstaltung, bei der ein ganz und gar unverwechselbarer Tänzer, dem Typus nach kein Prinz der klassischen Schule, über die Bühne fegte – als Armen in „Gajaneh“ und als Ali in „Le Corsaire“. Er war zweifellos ein Besonderer, doch gleichwohl: ein Namenloser unter Namenlosen. Jahre später, im September 1964, bin ich dem Unbekannten dann persönlich begegnet. So nebenher erzählte er von seinem früheren Besuch – seine erste Chance, den Eisernen Vorhang zu überwinden. Wie hochfliegend waren seine Erwartungen gewesen, und wie verbittert musste er wahrnehmen, dass niemand auf ihn gewartet hatte. Was für ein Entrée für einen 21-jährigen Tataren, der aufgebrochen war, die westliche Welt im Sturm zu nehmen!

Fünf Jahre später war alles anders. Im Juni 1961 hatte Rudolf Nurejew den Mut zum entscheidenden Schritt in die Freiheit, als er sich, während einer Tournee des Kirow-Balletts, am Pariser Flughafen Le Bourget weigerte, vorzeitig und unfreiwillig heimgeschickt zu werden in die Sowjetunion. Was ihn dort über Nacht zur Unperson werden ließ, hier zum gefeierten Helden, zum Star der Stars, aber auch zu einer der Hauptfiguren in jenem Kalten Krieg, der sich, unaufhaltsam und unausweichlich, auf seinen Höhepunkt zubewegte, zunächst auf die Berliner Mauer, dann auf die Konfrontation in Kuba.

Ein paar Mal habe ich Rudolf ausgiebig befragt über seine künstlerischen Anfänge, über seine tatarischen Wurzeln, die Kindheit in Ufa, über seine Lehrerin Anna Udelzova, das „späte“ Studium bei Alexander Puschkin in Leningrad und über seine Widersetzlichkeit gegen so gut wie alles, was in der Sowjetunion Norm gewesen ist, künstlerische wie soziale. Sein Dasein, so scheint es, war ein einziges Aufbegehren, aber es wäre töricht, wenn man nun annähme, die Antwort auf das alles, die Flucht in den goldenen Westen, die Entscheidung für die Freiheit, sei ihm so leicht gefallen. Damals, 1959 in Wien, in diesem Sommer der Anonymität, mögen ihm einige Dinge klarer geworden sein. Was würde er gewinnen, was müsste er opfern?

In Wien fühlte er sich zeitlebens ein wenig zu Hause, und nur in Wien, so bleibt mit einiger Genugtuung hinzuzufügen, ist er auch vom Publikum zeitlebens gut behandelt worden, selbst in seinen kritischen Jahren, als der Tänzer Rudolf Nurejew den Raubbau an seinem Körper so deutlich zu spüren begann wie den Fortschritt seiner Krankheit.

Rudolf Nurejew hatte stets den Mut zum höchsten Risiko, das war ein Zeichen seiner Größe. In seinem Handeln war er zugleich die Personifikation dessen, was für Künstler jenseits des Könnens liegt, das Müssen. In seinem Können war er beileibe nicht singulär, man denke nur an seinen Freund Juri Solowjew, an Wladimir Wasiljew oder Michail Barischnikow, die großen Rivalen. Aber in diesem Müssen, in diesem Nichtanderskönnen, in dieser Unwiderstehlichkeit, war er einzigartig. Er vermittelte, wie kaum jemand sonst, dass es sein Tanz war, und nichts als sein Tanz, wodurch er sich künstlerisch mitteilen konnte, ja mitteilen musste.

Rudolf Nurejew ist für mich zu einem Lebensmenschen geworden. An niemandem konnte ich klarer beobachten, was es heißt, sich an eine Aufgabe ganz hinzugeben. Begabt mit einer Willensstärke, die sich in seiner harten, entbehrungsreichen Kindheit entwickelt haben mag, geübt in einer Trainings- und Probendisziplin, die ihn zeitlebens prägte, war Rudolf eine Verkörperung des höchsten Arbeitsethos, das sich denken lässt. Es gab nichts, buchstäblich nichts, was ihn ablenkte vom Wesentlichen. Sein Leben war ausgerichtet auf das eine, den „Moment der Wahrheit“, den möglichst allabendlichen Auftritt. Seine ganze Spannung wurde auf diesen Augenblick hin aufgebaut, um nicht zu sagen: zugespitzt, und jeder, der mit ihm zu tun hatte, hat diese Spannung leibhaftig erfahren, als Druck, auch als Angst vor einer Unberechenbarkeit, vor einem Jähzorn, dem etwas Gefährliches, Urtümliches innezuwohnen schien.

Heiliger Ernst

Rudolf Nurejew hat nie Überflüssiges gesagt oder getan, nur das Notwendige. Notwendig waren knappe, professionelle Proben. Die Partnerinnen und Partner waren hart gefordert. Geduld kannte er nicht. Rudolf Nurejew war weitblickend, und er war großzügig, als Künstler wie als Mensch. In den frühen achtziger Jahren war Nurejew gerade zum Directeur de la danse in Paris berufen worden, und er beeilte sich, seinem Ruf gerecht zu werden. Kein Stein, so schien es, würde im Palais Garnier auf dem andern bleiben. Er kümmerte sich einfach nicht um die lähmenden Hierarchien, Privilegien und Regeln des Hauses. Es herrschte Aufruhr. Rudolf blieb unbeirrbar. Er tat, was er für richtig hielt, und er tat es mit einer Konsequenz, zu der außer ihm niemand fähig gewesen wäre.

Manche Bilder sind eingegraben in der Erinnerung. Ich sehe Rudolf, die berühmte Mütze tief in der Stirn, wie er allein am Klavier des Kleinen Ballettsaals sitzt und mit heiligem Ernst Bachs „Inventionen“ buchstabiert, in halbem Tempo, aber ganz konzentriert. Ich sehe ihn aber auch inmitten von Bildern und Büchern. Er hat viele Nächte lesend verbracht.

Rudolf Nurejew ist sein ganzes Leben lang nicht müde geworden, zu lernen und wieder zu lernen. Wie viele spät Berufene, wie viele von denen, die keine Chance gehabt haben zu einem systematischen Bildungsweg, hat Rudolf jede Chance wahrgenommen, Neues zu erfahren, in sich aufzusaugen. Er war nicht nur in den Ballettsälen der Welt zu Hause, sondern auch in den Museen, den Konzertsälen und den Opernhäusern. Ich denke, dass seine künstlerische Neugier, dieses unausgesetzte Forschen, auch die Basis für unsere Freundschaft gewesen ist. Der Tanz, das war unsere professionelle Bindung, aber die ganze Spannweite des Musischen, das war der Stoff für unser Einverständnis jenseits des Notwendigen.

Der Autor war von 1976 bis 1990 Ballettdirektor der Wiener Staatsoper. Von 1990 bis 2001 arbeitete er als Projektbeauftragter der Senatsverwaltung für ein BerlinBallett.

Im Wiener Verlag Christian Brandstätter ist soeben erschienen: Andrea Amort (Hg.), Nurejew und Wien. Ein leidenschaftliches Verhältnis. 128 S., 118 Abb., 39,30 Euro.

Gerhard Brunner

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