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Kultur: Mondgestein

Neues Finale: Rattle dirigiert Bruckners Neunte.

Wer sich mit den ganz großen Werken der klassischen Musik befasst, ihren schillernden Fragmenten zumal, muss sich entscheiden: Will man den Klängen als Mystiker oder Aufklärer dienen? Simon Rattle hat sich früh gegen das Raunen und für das Staunen entschieden. Ohne den Elan, mit dem er die Aufführungsfassung von Deryck Cooke im Konzertsaal durchsetzte, hätten wir heute kaum eine Vorstellung davon, was Mahler uns mit seiner Zehnten sagen wollte. Auch Bruckner konnte das Werk, mit dem er die Summe seines forschenden Klangschaffens ziehen wollte, nicht mehr vollenden. Dem letzten Satz der neunten Symphonie, gewidmet „dem lieben Gott“, fehlt eine kurze Spanne Lebenszeit zu seiner Vollendung. Ein Team aus Musikwissenschaftlern, Komponisten und Dirigenten hat seit 1983 an einer Rekonstruktion des Finales gearbeitet, die Rattle bereits im vergangenen November mit dem Bundesjugendorchester aufführte.

Jetzt wagt er bestens präpariert mit seinen Philharmonikern eine Forschungsreise in die Natur der Musik, wie Bruckner sie sah: Wild ist sie und erschreckend, hebt Zeit und Raum aus den Angeln und leuchtet durch das Jüngste Gericht hin zur Auferstehung. Rattle stellt sich den letzten Dingen mit betörender Finesse. Zwischen Blechbläsern und Streichern verläuft keinerlei Grat mehr, selbst im Zentralmassiv des Klangs bleibt jede Regung der Holzbläser hörbar. Nie werden Regionen gestreift, in denen Dynamik nur noch in den Ohren klingelt. Rattle bringt uns diese bekannte unbekannte Neunte, die Nikolaus Harnoncourt als einen „Stein vom Mond“ beschreibt, mit großer Zärtlichkeit näher. Alles, was in ihr anklingt, voran Wagner und Liszt, scheint jeglicher Eitelkeit enthoben, hinter den Dramen dieser Welt. Würden wir eine vollendete Neunte überhaupt ertragen? Rattle lobt die Tüftler: „Alles, was an diesem Finale merkwürdig ist, ist 100 Prozent Bruckner.“ Alles, was an diesem Finale vibriert, sind Philharmoniker, die 100 Prozent geben (noch einmal heute, Donnerstag, 20 Uhr). Ulrich Amling

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