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Kultur: Mord, Schuld, Erlösung

Der Dramatikerin Dea Loher gelingt ein schwebendes Romandebüt: „Bugatti taucht auf“.

Ich wäre gern ein anderer gewesen, einer, für den nicht das Leben voller Tücken und jeder Tag voller Hindernisse ist“, gesteht Rembrandt Bugatti, der Bruder des Autokonstrukteurs Ettore 1915 in seinem Tagebuch, mit dem Dea Lohers Roman „Bugatti taucht auf“ beginnt. Der Tierbildhauer Rembrandt ist eine eindrucksvolle, kantige und dünnhäutige Figur, und in der lakonischen Schilderung seiner täglichen Nöte, in seinen selbstironischen Weltzweifeln und seiner irrlichternden Glückssehnsucht steckt schon die ganze Stimmung der abenteuerlichen Geschichte, die hier erzählt wird.

Sie beruht auf zwei realen Ereignissen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, im Lauf des Romans aber immer enger zusammen rücken und sich schließlich als die schicksalhaft aufeinander bezogenen Hälften ein- und derselben Krise entpuppen. Während der Fastnacht 2008 wird in Locarno ein Junge, Luca, von drei Jugendlichen, die ihn nicht kannten, getötet – und dieser sinnlose und besonders grausame Mord reißt das bis dahin wohlgeordnete Leben von Jordi, einem alten Freund von Lucas Vater, aus allen Verankerungen.

Rembrandts ängstliche Hingabe an die Welt, die im Tagebuch, das sich wie ein Prolog lesen lässt, knapp, aber plastisch geschildert wird, korrespondiert direkt mit der gefesselten Empfindsamkeit von Jordi, dem Helden des dritten Teils. Er beschließt, das Schwierigste und Verrückteste, das ihm einfällt, für den Ermordeten zu tun: Er will den fast aussichtslosen Kampf um den Bugatti Typ 22 Brescia, eines der eindrucksvollsten Autos, das je gebaut wurde und das angeblich auf dem Grund des Lago Maggiore liegt, aufnehmen und das Auto bergen. Je tiefer der Erzählblick in die – sorgsam recherchierten – Details und die (fiktiven) Charaktere eintaucht, desto spannender und verrückter wird das Ganze.

Wie in Dea Lohers Theaterstücken geht es auch hier um Verletzbarkeit und Zartheit, um persönliches Versagen, Auflösung und Zerstörung. Aber es macht ihre Kunst aus, dass sie von diesen Themen leicht und liebevoll erzählt. Sie fühlt mit ihren Figuren, die stolpern, stammeln und immer wieder einzelne Sätze wiederholen, als müssten diese gekaut und geschmeckt werden. Kein Wort scheint selbstverständlich, jeder Satz gerät zu einer intimen Äußerung. Auch die betont kühl erzählte Mordtat, die das grandiose Mittelstück des Romans bildet, wirkt wie ein blindes, bedrückend körperliches Tasten im Nebel. Es ist der verzweifelte Versuch, die Details jener Nacht in ihrem Zusammenspiel zu rekonstruieren, doch die Aussagen der Täter und der zahlreichen Zeugen wiedersprechen einander immer mehr.

Zwar ist klar, dass Luca durch Fußtritte starb, aber wer sie ausführte und warum, bleibt unklar, ja mehr noch: je schärfer man hinschaut, desto schneller scheinen sich die tatsächlichen Vorgänge aufzulösen, bis alle Überlegungen um eine leere Mitte kreisen. Dea Loher hat die italienischen Gerichtsakten gemeinsam mit einem Freund übersetzt und einen bitter ironischen, kunstvollen Amts-Ton erfunden, der diese absurde, sich an Missverständnissen und Zufällen entzündende Gewaltspirale, die sich fast täglich in jeder Großstadt abspielt, sinnlich nachzeichnet.

Eine „entschlossene Aufklärerin“ hat man sie anlässlich der Verleihung des Brecht-Preises genannt. Was Loher in dieser Rolle so glaubwürdig macht, ist ihre Leidenschaft für alles Vielschichtige, für Experimente mit offenem Ausgang. Jordi will die Gewalt, den Schrecken und die Hysterie, die diesen Mord umgeben, entkräften, indem er ihm „etwas Unfertiges, Fragendes“ entgegensetzt, das Fantasien und Interesse auf sich zieht: eine Geschichte, die „von irgendwoher kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde; ein Riesending, ein Zartes“. Er holt einen versunkenen Traum ans Tageslicht, denn dieses blinkende, schlammverkrustete Ding, das alle Taucher kennen und um das sich unzählige Gerüchte ranken, entpuppt sich als Kostbarkeit: Es ist jener Bugatti, der dem legendären Rennfahrer René Dreyfus gehörte, einem Juden, der sich den grenzenlosen Hass der rennbegeisterten Nationalsozialisten zuzog, weil er ihre Silberpfeile besiegte.

Eine filigrane, schwebende Geschichte wie diese funktioniert in der Literatur besser als auf der Bühne. Doch bei Dea Loher, der meistgespielten deutschsprachigen Dramatikerin, liegt beides nah beieinander. Ihr Markenzeichen ist der tragische Witz, mit dem sie das poetische Sprechen auf die Bühne bringt. Umgekehrt erzählt sie in ihrer Prosa (wie schon im Erzählungsband „Hundskopf“) mit spielerischer Lust von der Condition humaine und ihren religiösen Abgründen. Der leidenschaftliche Ernst, mit dem sie das tut, wurde entscheidend von ihrem Lehrer Heiner Müller gefördert und von ihrer katholischen Sozialisation geprägt, wie sie in einem Interview erklärte: „Was soll man machen. Schuld, Erlösung, Reinigung, Läuterung, das verfolgt einen das Leben lang.“

„Die Bergung“ heißt der dritte und längste Romanteil, der in Gestalt absurder und anrührender Szenen ein vorsichtiges Hoffnungsbild wagt. Dominiert wird er von zwei kompromisslos neugierigen Alten – leidenschaftlichen Forschern, Sammlern und Sonderlingen, die zartfühlend und grobianisch knurren und fluchen und so kunstvoll und stur gegen ihre Gebrechlichkeit revoltieren, dass sie Beckett alle Ehre gemacht hätten. Mit ihrer Begeisterung und ihrem Widerspruchsgeist stecken sie Jordi an. Die scheinheilig-lethargische Idylle seines Heimatstädtchens Ascona (wo eine solche Bergung 2009 tatsächlich stattfand) scheint ihm jetzt unerträglich. „Bin unterwegs“, schreibt er einem Freund am anderen Ende der Welt, entschlossen, der „gasigen, lähmenden Atmosphäre“, die bisher sein Leben einhüllte, zu entkommen.

Dea Loher: Bugatti taucht auf. Roman. Wallstein Verlag,

Göttingen 2012.

208 Seiten, 19,90 €.

Nicole Henneberg

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