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Kultur: Mordlust und Nudelsalat

Beim Theaterfestival „Außer Atem“ übernehmen die ganz Jungen die Sophiensäle

Wie kann man dem dämonischen Verbrecher Fantomas auf die Spur kommen, an dem sich die Polizei alle Zähne ausbeißt? Man stellt seine Mordmethoden nach und zeichnet penibel auf, wie man sich dabei fühlt. Denn wenn man die Mordlust mit dem Verbrecher geteilt hat, kommt man dem Rätsel Fantomas vielleicht näher. Nur eine von vielen schönen Ideen, die Theaterbesucher derzeit beim Nachwuchsfestival „Außer Atem“ in den Sophiensälen miterleben können. „Fantomas“ war die vierte von sechs Premieren des Programms, das Newcomern in Berlin noch bis Anfang November eine Plattform bietet.

Am Anfang stand ein Mangelgefühl: „Es gibt eine Reihe von Festivals, die zeitgenössischen Theaterautoren eine Chance geben, aber wir wollten ein Programm, bei dem die Regiearbeit im Vordergrund steht“, sagt Christian Holtzhauer. Zusammen mit Amelie Deuflhard, der künstlerischen Leiterin der Säle, und Dramaturgin Andrea Tietz hat er die Produktionsreihe auf die Beine gestellt. Tietz ist zudem Kontaktperson in Hamburg, wo die Stücke ab Januar in der Kampnagelfabrik laufen.

Das ist natürlich ein Risiko: Sechs junge Regisseure um die 25 ranzulassen, die teilweise noch zur Schauspielschule gehen und Regie studieren. Mit einem Etat von 7000 Euro pro Aufführung hatte vorher noch keiner gearbeitet. Und dann gab es auch noch zwei ungewohnte Vorgaben. Erstens: Keine Theatertexte! So brachten die Gruppen jeweils Filmstoffe mit eigenen Texten auf die Bühne, passend zum Festivaltitel „Außer Atem“, der auf den Filmklassiker des damaligen Nachwuchsressigeurs Jean-Luc Godard zurückgeht. Zweite Vorgabe: das minimalistische Bühnenbild. Für alle Stücke hat Esther Bialas schlichte, höchst flexible Module entwickelt, die die Spielfläche in den malerisch vor sich hin bröckelnden Sophiensälen immer wieder in neue Räume unterteilen.

Solche Vorgaben können für die Eingeladenen zur Last werden. Nicht so bei „Außer Atem“: „Oft ist bei Aufführungen junger Regisseure die Bühne zudekoriert. Unsere Regisseure waren geradezu dankbar, dass wir ihnen ein sehr reduziertes Bühnenbild bereitgestellt haben“, sagt Festival-Leiterin Deuflhard. Einschränkung bedeutet auch Konzentration, und die Konzentration auf die Regiearbeit hat sehr schöne Stücke hervorgebracht.

Rückblende in die Achtziger

Jorinde Dröses „RobbyKallePaul“ spielt den gleichnamigen Film Dani Levys aus dem Jahr 1988 neu ein und eröffnete damit das Festival am vergangenen Donnerstag. Generationenbücher von 30-Jährigen nerven durch ihre Nostalgielastigkeit, wenn sie die gleichen Mechanismen ausbeuten, wie es Turnschuhhersteller tun, die ein Produkt aus den Achtzigerjahren neu auflegen. Manch Erinnerungsfreudiger Autor kommt über ein „Ach, weißt Du noch, damals“ nicht hinaus. Dröses Besuch in der überzeichneten Achtzigerjahre-WG macht da viel mehr Spaß.

Robby und seine Mitbewohner sehen wie eine Mischung aus Achtzigerjahre-Chic und Prenzlauer Berg 2003 aus: Parka über Latzhose, Rosa Hosenträger über türkisfarbener Trainingsjacke. Die allen Inszenierungen vorgeschriebenen Linoleumfliesen markieren hier die drei Räume der WG. Kalle (Alexander Wüst) zieht die Frauen an wie ein Magnet und macht Robby (Jörg Kleemann) und Paul (Felix Lampe) damit das Liebesleben schwer. Weil Kalle ihm seine Freundin ausgespannt hat, zieht Robby sich meditierend in seinen Judoanzug zurück. Schön, wie die Figur zwischen vorgetäuschter Gleichgültigkeit, moralisierender Besserwisserei und beleidigter Leberwurst wandelt.

„Rebel Rebel“ ist dem James-Dean-Klassiker „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ nachempfunden. Darin terrorisiert eine Jugendgang eine Kleinstadt. Anders als im Film hat Regisseur Sebastian Schug nicht den von James Dean gespielten Jim (Hyun Wanner) in den Vordergrund gerückt, sondern Plato (Jan Thümer), den Außenseiter der gewalthungrigen Bande. Seine Mutter (Oana Solomon), eine Prostituierte am Rande des Nervenzusammenbruchs, sieht ihn am liebsten als Mädchen. Plato nimmt die Rolle an, verliebt sich in Jim, den anderen Underdog. Als der ins Visier von Bandenchef Jackson (Alexander Schröder) gerät, opfert sich Plato, indem er sich zur Hure macht. Das Stück, das alle gängigen sexuellen Orientierungen durchbuchstabiert, lebt von Ausbrüchen, die manchmal wüst und unpräzise daherkommen. Doch die Inszenierung nimmt sich auch Zeit für schöne Stillleben. Etwa, wenn Jackson und Plato nach ihrer Sexszene die gemeinsame Zigarette genießen.

Die Gewaltausbrüche bei „Fantomas“ haben Methode. Sie gehören zur Experimentserie des surrealistischen Büros, das Regisseurin Susanne Reifenrath ersponnen hat. Auf der Jagd nach dem Superverbrecher darf jeder der vier Büromitarbeiter mal den Mörder spielen und muss danach den Kollegen als Opfer dienen. Sexy, naiv und voller Ironie spielt Christa Pasch das klischeebeladene weibliche Mordopfer und krönt die Szene mit einem Todesschrei, der in jeden Edgar-Wallace-Streifen passen würde.

Surrealistisches Sprachballett

Statt pointenreich die Filme mit der Quasselstrippe Louis de Funès nachzuinszenieren, hat sich die Regisseurin auf Spurensuche begeben und die Faszination untersucht, die der Groschenromanheld Fantomas auf die Surrealisten um André Breton ausübte. Die Improvisationen um surrealistische Textfragmente hat Reifenrath zu einem elegant choreografierten Sprachballett gefügt.

Zwei weitere Premieren am kommenden Mittwoch runden das Festival ab. Wer wissen will, was aus deutschsprachigen Regieschulen heute so hervorgeht, muss in die Sophiensäle kommen. Das Haus versteht es, Talente zu entdecken und zu fördern. Dazu gehört neben dem einmaligen Spielort auch eine familiäre Atmosphäre und gründliche Fürsorge: Den Nudelsalat für die Premierenfeiern machen die Mitarbeiter der Sophiensäle selbst.

Zwei weitere Premieren am Mittwoch, 29.10.. Weitere Aufführungen 30.10. bis 02.11., jeweils 19.30 und 21.30 Uhr.

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