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Kultur: "Moulin Rouge": Cannes tanzt Cancan

Cannes ist die Überdosis, von Anfang an. Schon der rote Teppich für jedermann am Flughafen von Nizza, das Spalier überdimensionaler historischer Filmkuss-Fotos, das der gemeine Filmtourist auf dem Weg zum Ausgang abschreitet - ist es nicht der passende Vorgeschmack auf jene rot ausgekleidete Freitreppe und die Hysterie, die dort wenige Stunden später Nicole Kidman umbranden wird?

Cannes ist die Überdosis, von Anfang an. Schon der rote Teppich für jedermann am Flughafen von Nizza, das Spalier überdimensionaler historischer Filmkuss-Fotos, das der gemeine Filmtourist auf dem Weg zum Ausgang abschreitet - ist es nicht der passende Vorgeschmack auf jene rot ausgekleidete Freitreppe und die Hysterie, die dort wenige Stunden später Nicole Kidman umbranden wird? Und all die zur Nacht prächtig beleuchteten Hochseeyachten und veritablen Kreuzfahrtschiffe, die zur Festivalzeit die Bucht von Cannes lustvoll zuparken - wer vermisst da noch den Blick aufs offene Meer? Und erst die Hollywood-Studios, die die Suiten und ganze Etagen in den Hotels Carlton und Martinez schon am ersten Tag in großartig kakophonische Handy-Volieren verwandeln; und die Bataillone von Kleinfotografen im Smoking, die Tausenden von Honoratiorenpaaren ein, zwei Blitzlichter lang zu Stars machen und ihnen dafür mit stereotypem Lächeln ihre Visitenkarte in die Hand drücken; die Hundertschaften von Filmfans auf ihren Aluleitern hinter den Absperrungen, die die Geduld ebenso wenig verlieren wie der legendäre "Le Monde"-Marktschreier vorm Festivalpalast seine Stimme - alles Überdosis. Ausnahmezustand. Programmierter Wahnsinn, zwölf Tage lang und zigtausendfach.

Und zugleich ist das noch gar nichts. Erstens ist die Realität bekanntlich, zumindest für diese Tage im Mai, nichts gegen das Kino - und was, wenn bereits der Eröffnungsfilm so irrwitzig alles sein will, Oper und Musical, Retro und Pop, Komödienstadl und allergrößtes Liebesdrama, Montmartre-Romantik und MTV, Bilderwut und Rauschgetöse, Evergreen und Farbexplosion? Wie auf einer postmodernen Münchhausenschen Kugel saust der Zuschauer in ein digital reanimiertes Postkarten-Paris der vorvergangenen Jahrhundertwende, Paradies und Hölle, Traum und Albtraum, sepiabraun und fellinibunt, alles eins. Und: Hauptsache überschallschnell.

Willkommen in Baz Luhrmanns "Moulin Rouge"! Las Vegas tanzt French Cancan. Nicole Kidman spielt die femme fatale so atemberaubend und sinnesbetörend, dass Marlene, Marilyn, Madonna und alle sonstigen Musen zumindest zeitweise vergessen sind. Ihr Filmpartner Ewan McGregor ist tausendmal charmanter als ihr einstiger im realen Leben Angetrauter und singt außerdem, als seien in seinen Stimmbändern zehn Pavarottis geschmolzen. Und Baz Luhrmann macht Dampf, als wäre die Vergangenheit und die Zukunft des Kinos und unsere ganze dumme Welt da draußen ein einziger Kessel Buntes, jedenfalls zwei Stunden und zehn Minuten lang. Anders gesagt: Wer in dieser Zeit unbedingt mit den Augen klimpern muss, ist selber schuld.

Der Poet und die Kurtisane

Worum es geht in diesem Film? Nun, das ist flott erledigt. Ewan McGregor spielt den bettelarmen Poeten Christian, der durch einen wundersamen Zufall zum Librettoschreiber eines Revueprogramms im Pariser Nachtclub "Moulin Rouge" avanciert und sich in die Star-Tänzerin und Nobel-Kurtisane Satine alias Nicole Kidman verliebt. Weil es der wunderbar voluminöse Nachtclub-Impresario (Jim Broadbent) so will, muss diese sich jedoch an den hässlichen, aber machtbewussten Produzenten eben jener Revue (Richard Roxburgh) verkaufen, obwohl sie, die sich eigentlich jedwede wahre Liebe beruflich abgewöhnt hat, längst den armen Christian liebt. Der wird nun eifersüchtig auf den Rivalen, weshalb der Tod die schwindsüchtige Satine alsbald dahinrafft und Christian nach langen, lebensleeren Monaten diese ihre gemeinsame Geschichte in seinem Poetenkämmerchen aufschreibt.

Eine Geschichte, die nichts anderes ist als eben dieser Film, dessen letzte Worte, sachte hineingetippt in saugfähiges Papier auf einer uralten Underwood-Schreibmaschine, lauten, es sei die "Geschichte einer Liebe, einer Liebe, die ewig dauern wird". Schluss, aus, Tränen, Trost, großer Vorhang: THE END.

Das Genie und der Kitsch

Kitsch. Klar. Von der ersten Sekunde an. Aber so grandioser, selbstreferentieller Kitsch, der sich so locker auf die Schippe nimmt, dass durch die Hintertür das Genie fast unbemerkt hereinspaziert und einen plötzlich an der Gurgel packt - und ein paar größere Künste gleich dazu. Oh ja, solchen Kitsch lassen wir uns gerne gefallen, solche bonbonbunten Zitate von Orpheus bis zu La Bohème, von Shakespeares bis zu Baz Luhrmanns "Romeo und Julia", von Adam und Eva bis zum Ende aller Zeiten. Und wenn sie so verschwenderisch und souverän kompiliert sind wie in "Moulin Rouge", dann werden sie mir nichts dir nichts selbst zu großer Kunst.

Dieser Luhrmann, 38 Jahre alt, geboren in Australien, Schauspieler und Opernregisseur, Drehbuchautor und Filmemacher und auch schon mal Wahlkampforganisator und Gründer eines Kunstmagazins, ist ein Teufelskerl. Das wussten wir vielleicht noch nicht ganz seit seinem ersten Film "Strictly Ballroom", womit er 1992 in Cannes den Prix de la Jeunesse holte, spätestens aber seit fünf Jahren, seit seiner Neuerfindung der größten Liebesgeschichte der Welt. Romeo und Julias Wiedergeburt aus dem Geiste des Pop war ein monomanisches und zugleich weltumspannendes Meisterstück; "Moulin Rouge" dreht das Karussell nun noch ein bisschen weiter, will Achter- und Geisterbahn sein und Lotterie noch dazu - ein großer, ewiger Jahrmarkt der Sinne.

"Moulin Rouge" steckt jetzt selbst im Lostopf, im 23 Lose fassenden, feinen Eimerchen des Wettbewerbs, über den eine Jury unter Vorsitz von Liv Ullman entscheidet - und ob Hauptgewinn draufsteht oder Niete, werden wir am 20. Mai wissen. Vielleicht heißt es am Ende Großgewinn, weil ein Film, der ein Festival so gewinnend und gewinnbringend eröffnet, selbst irgend etwas gewinnen muss, es sei denn die Jury ist selbst eine Niete.

Immerhin hat "Moulin Rouge" diese 54. Edition des weltverrücktesten Massenereignisses sofort auf Touren gebracht, und schon dafür müsste es, nach der Schlaftablette "Vatel" vom vergangenen Jahr, einen Sonderpreis geben. Nicht dass das Festival dieses Tempo nun halten müsste: Erstens ist es sowieso nicht länger als zwei Stunden zu ertragen, und zweitens gibt es aus gutem Grund sehr viel langsamere, rationalere, grüblerischere, stillere, forschendere, anderweitig Kopf und Herz und Körper erschütternde Filmsprachen auf diesem Planeten, die traditionell auch in Cannes zu Hause sind.

Das Beste und das Bessere

Ein Anfang aber ist gemacht - und fast scheint es, als sei der 70-jährige Gilles Jacob, der seit fast einem Vierteljahrhundert unangefochten die Geschicke des Festivals leitet und nun mit Thierry Frémeaux einen dreißig Jahre Jüngeren mit ins Boot genommen hat, selbst von diesem Fieber angesteckt. Ganz untypisch für seine übliche Reserve hat er sich zum Festivalstart programmatisch fast eine Überdosis an Superlativen verordnet. Im Grußwort zum Festival rühmt er die Auswahl seines neuen künstlerischen Leiters so: "Ich hatte das Beste erwartet. Es ist noch besser geworden." Große Worte. Wenn der Rausch von "Moulin Rouge" verflogen ist, werden wir ihn daran zu messen haben.

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