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Kultur: Mr. Hallidays Höllenmaschine

Rasender Stillstand, Flug der Gedanken: Eine kleine Geschichte der Eisenbahnverkehrs

Am Montag habe ich (für eine unaufschiebbare Kurierfahrt, hin und zurück) 13 Stunden auf der Bahn verbracht. Ein Tag im Räderwerk. Man quetscht sich samt Gepäck irgendwo hin, man döst, träumt, mutiert zum muffigen Pendler. Man wird sanft gerüttelt wie ein Martini. Man eiert durch den Gang, schaut auf regenblinde Fenster, kreisende Windmühlen, kriegt Anschlüsse und verpasst welche, wegen kleiner Verspätungen, die peu à peu größer werden. Man hört Entschuldigungen der Räderwerkbetreuer, über „Signalstörungen“ und „ausgefallene Bordcomputer“, und freut sich, dass Streik erst für morgen angekündigt ist; Warnungen laufen über die Anzeigetafeln. Man ahnt für Momente, was es heißt, wie Mr. Halliday zu leben.

„Haupt-Sorge eines Locomotivführers ist die Zeit einzuhalten; daran denkt er am meisten“, sagt Mr. Halliday, der seit 25 Jahren im Dienst ist. „Ich glaube, dass die Locomotivführer als Körperschaft die gesündesten Leute sind; sie leben nur nicht lange. Die Ursache davon ist: die kalte Nahrung und die Erschütterung.“ Acht Schilling täglich verdient Mr. Halliday: „Ich klage nicht, besonders wegen des Gehalts; aber ich finde es hart für uns, daß wir Einkommensteuer zahlen … Ich verlasse das Haus um 7 ½ Uhr Morgens, kehre vor 9 ½ Uhr Abends oder später nicht zurück.“ Ein Lokführer dürfe weder an sein Leben denken noch an seine Reisenden, er müsse nur alles in Ordnung halten. „Es würde ihm niemals gut tun, zu viel zu wissen oder zu viel zu fühlen.“

Als Charles Dickens vor 171 Jahren seinen Mr. Halliday verewigte, war die neue Fortbewegungsbegeisterung noch nicht überall angekommen. Doch schon damals wurde die Maschine des Lokführers im Zusammenhang einer Generalbeschleunigung von Kommunikation und Vehikeln wahrgenommen. Heute zweifeln wir wieder: Entpuppt sich der Mobilitätstraum nur als grandioses Versprechen? Solange alles klappt, verschwimmen Grenzen; gedopt steigern Sportler ihr Tempo ins Unglaubliche, Distanzen schrumpfen per Zug, Auto, Flieger, Rakete, via Telegraf, Fax, TV, Internet. Eine Spamattacke, ein Stau, ein Terroranschlag, manchmal nur Angst davor wirft jeden auf den Punkt zurück, an dem alles steht. Räderwerke brauchen Schutzengel. „Allah! Beschleunige die Vollendung dieser wichtigen Eisenbahnstraße, vervielfältige die Zahl ähnlicher Unternehmungen!“, lautete das Gebet eines Derwischs bei einer nahöstlichen Steckenfreigabe 1863. Zehn Jahre später, als der Pilgerstrom nach Mekka bereits bahnbegünstigt zunimmt, freut sich ein Beobachter, das Gebäude des Islam werde „vom Geiste der Zeit und den Schöpfungen der abendländischen Cultur in leiser, aber beständig fortschreitender Weise ergriffen“.

Es ist rührend, in Zeiten des Zivilisationsfrustes jener Euphorie nachzuspüren, die damals nicht nur Techniker und Industrielle berauschte. Dampfschiffmatrosen rufen 1835: „Wir spotten der aberwitz’gen Propheten und weisen sie in die Kajüte zurück; wir lassen sie murren, wir lassen sie beten, wir zwingen und meistern das Glück.“ Der Mensch werde „ein unendlich glücklicheres, vollkommeneres Wesen“, Straßennetz, Eisenbahn, Telegrafen und Dampfschifffahrt gestalten den Völkerverkehr zu einem „Kunstwerke“, jubeln Fachleute 1860. „Deus qui ambulas super pennas ventorum …“, beschwört der katholische Segen für Telegrafen 1865 den auf Windes Flügeln einherschreitenden Schöpfergott.

Dank der Bahn, resümiert man, sei bereits „das Leben länger“ geworden, es verschwand „die dauernde Hungersnoth aus der civilisierten Welt, der Krieg erhielt neue humanere Formen“. Mit dem „sausenden Schwunge der Locomotive“ hat sich Berlin „zur Reichshauptstadt geschaffen“. Der Telegraf schließlich, „Blitzbote der Gedanken“, wird als das „idealste Verkehrsmittel“ erkannt. Ozeandampfer und Bahnen seien wie „Weberschiffe, deren Hin- und Wiederschiessen unablässig am lebendigen Kleide der von der Körperarbeit mehr und mehr befreiten Menschheit webt, und die Parallellinien der Eisenbahngleise, der Telegraphendrähte, das sind die Notenlinien, auf welche die in der Technik verkörperten inductiven Wissenschaften bereits ihre Jubel-Ouvertüre der Zukunft geschrieben haben, und auf die sie dereinst, nach neuen Siegen im Kampfe für die Befreiung des Geistes vom Körpergewicht, ihre Symphonie Eroica schreiben werden“.

Heute wirkt solch gläubiges Pathos komisch. Hans Christian Andersens „Europa in acht Tagen“-Vision von 1862, die das Luftschiff-Sightseeing der Ami-Touristen erst Jahrtausende später datierte, wurde längst eingeholt. Trotzdem ist „dem Menschen“ seine Sehnsucht, an vielen Orten oder unbedingt anderswo sein zu wollen, schwer abzugewöhnen. Ein Schöneberger Reisebüro präsentiert im Schaufenster Sandstrand aus aller Welt: Wer diese Reliquien zum Anfassen sieht, heilige Böden der Entrückung, den verzaubert spontane Reiselust. Wer gegenrechnet, wie die Beschleunigung von Körper- und Gedankentransporten den Planeten und das Leben seiner Menschen verändert, gerät in eine Zwickmühle.

So bedient auch faszinierte Mobilitätspoesie Verklärung und Dämonisierung zugleich. „Ja die Welt erschiene todt in Leere, hübe nicht Geschwindigkeit die Schwere“, dichtete Achim von Arnim. Ein Bahnpassagier 1838 erblickt „Schlackentheilchen, die sich bei einbrechender Dunkelheit in einen wahren Feuerregen verwandeln, als wenn ich mit des Teufels Equipage, à la Faust, zur Hölle führe“. Für Hermann Lessing macht der Ruhestörer Telegraf uns zu Bürgern aller Weltteile: „Metaphern von dem Flug des Gedankens und der Allgegenwart der Fama, von der Vernichtung von Zeit und Raum, von dem Band, das die ganze Menschheit umschlingt – alle die Träume der Philosophen sind jetzt mit den Sinnen fassbare Dinge.“

Wenige Katastrophendekaden entfernt skandiert der Philosoph Paul Virilio: „Mobilisierung, In-Gang-setzen der Körper, Reise, Exodus, Deportation, Verschleppung.“ Zur ursprünglichen „Geschwindigkeit des zahmen Körpers“ trete, „gesteuert von der logistischen Revolution der Armeen seine technische Beschleunigungsart“. So entstehe der „Projektil-Mensch“. Jeder Aufbruch sei „ein Abbruch unseres Kontaktes, unserer direkten Erfahrung; die Bewegung, die das Fahrzeug vermittelt, zerreißt und foltert den Körper, dem seine Eigenbewegung genommen wird … Wir gehen nirgends hin, wir begnügen uns damit aufzubrechen … Im Zentrum der beschleunigten Fortbewegung stehen Menschenraub und Entführung“. Reisende seien der „Gewalt der Geschwindigkeit“ ausgesetzt: „Zwangsverschleppte“.

Zwischen Hermann Lessing und Virilio steht der Zivilisationsbruch Holocaust, zwischen Virilios Thesen und dem Heute der www-Siegeszug. Dass Mobilität, pervertiert zugespitzt, die industrielle Menschenvernichtung befördert hat, ist bekannt. Dass virtuelle Kommunikation den Kommunikator entkörperlicht, dass Rasanz der Wahrnehmung flimmerndes Bewusstsein produziert, ist Alltag. Ökologische Kosten physischer Mobilität werden nicht mehr verdrängt. Mobilität, der Mythos einer zwiespältigen Moderne, beglückt und vernichtet. Dass von ihrer Neue-Welt-Verheißung nur eine Minderheit umfassend profitiert, ist den Rasern kaum bewusst. Die meisten Menschen kommen über ihren Heimatbezirk selten hinaus; höchstens forciert durch Armut oder Gewalt.

Alles Unglück der Menschen, hat Blaise Pascal erkannt, komme daher, „dass sie es nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben“. Was der Philosoph des 17. Jahrhunderts nicht wusste: Einer seiner Zeitgenossen hatte eine Erfindung skizziert, die über hundert Jahre später James Watt zugeschrieben wird. Der kluge Franzose ging damit zu Kardinal Richelieu, wurde als verrückt eingesperrt und konnte im Gefängnis, bevor er dort starb, dem ebenfalls inhaftierten Marquis von Worcester berichten, welcher die Idee in England publizierte, worauf sie über Optimierer an Watt gelangte. Merke: 1. Es ist nicht immer schön, in demselben Zimmer zu bleiben. 2. Manchmal heißt erfinden: Warten, bis die Idee vorbeikommt. 3. Fortschritt ist leider unaufhaltsam, solange es Engländer gibt. Während ich staunend diese Story der Dampfmaschine lese, erreicht mein Zug, ein paar Stunden später als geplant, nach Mitternacht, Berlin. Manche Reisen sind Trips nach innen; andere dauern, im Märchen, scheinbar einen Tag, real hundert Jahre. Was passiert zwischendurch? War da wer?

Thomas Lackkmann

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