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Münchner-Architektur-Ausstellung: Rekonstruktion: Wie zerronnen, so gewonnen

Rekonstruktion gibt es, seit es Architektur gibt: Eine großartige Ausstellung in München bringt Klarheit in einen alten Streit.

Am Morgen des 14. Juli 1902 stürzte der Campanile auf dem Markusplatz von Venedig in sich zusammen. Noch am selben Abend erklärte Bürgermeister Grimani: „Der Campanile und die Loggetta müssen selbstverständlich wiederhergestellt werden!“ Das Schlagwort „Com’era, dov’era“ machte die Runde: „Wie es war, wo es war“. 1912 konnte der Turm wiedereingeweiht werden. Ein Beobachter merkte an, dass „künftige Generationen, denen das schreckliche Unglück nicht mehr bewusst ist, kaum noch bedenken werden, dass er nur ein Abbild ist“.

Nur ein Abbild? Die wenigsten Venedig-Besucher wissen, dass der Campanile ein Nachbau ist, und wenn, spielt es für ihre Wahrnehmung keine Rolle. Ohne den Turm wäre das Bild des Markusplatzes so, wie Hermann Hesse 1903 klagte: „Der Campanile fehlt schrecklich.“

Ein halbes Jahrhundert später wurde ausgerechnet in Venedig jene Charta der Denkmalpflege ausgerufen, die jedweder Restaurierung lediglich „Ausnahmecharakter“ zubilligt. Und bezüglich zerstörter Baudenkmale noch schärfer formuliert: „Jede Rekonstruktionsarbeit soll von vorneherein ausgeschlossen sein.“

Tatsächlich aber ist die Rekonstruktion verschwundener Bauten eine Selbstverständlichkeit. Es hat sie immer und überall gegeben, von der Antike bis heute. Erst anfangs des 20. Jahrhunderts wurden die Dogmen verkündet, die seither gebetsmühlenartig wiederholt werden: Nichts darf wiederhergestellt, alles muss im status quo belassen werden, auch zufällige Narben und Spuren sind heilig.

Darin steckt allerdings eine groteske Verwechslung von Denkmalpflege und Geschichtsbewusstsein. „Die strikte Ablehnung von Rekonstruktionen, die als Neubauten überhaupt nicht in den Bereich der Denkmalpflege fallen, ist häufig nur ein Moralisieren gegenüber anderen Auffassungen“, konstatiert der in München lehrende Architekturhistoriker Winfried Nerdinger: „Wenn es vorrangig darum geht, Erinnerung über Architektur zu bewahren, muss die bauliche Substanz nicht zwingend ,original’ sein.“

Nerdinger, Leiter des Architekturmuseums der Münchner TU, hat jetzt unter dem Titel „Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte“ eine Ausstellung erarbeitet, die umfassende Aufklärung schafft. In zehn Kapitel gegliedert und mit Hunderten von Fallbeispielen belegt, breitet sich in der Pinakothek der Moderne ein Panorama der Ursachen und Begründungen aus, die im Laufe der Geschichte zu Rekonstruktionen Anlass gaben – von rituellen und religiösen über nationale und politische bis zu persönlichen Gründen, und nicht zuletzt jenem, der 1902 in Venedig den Ausschlag gab: das historische Bild zu bewahren.

„Das Gedächtnis klammert sich an Orte wie Geschichte an Ereignisse“, hat der französische Historiker Pierre Nora gesagt; ihm verdanken wir die Kenntnis der lieux de mémoire, der „Erinnerungsorte“, in denen sich „das Gedächtnis der Nation in besonderem Maße verkörpert oder kristallisiert hat“. Dieser Ansatz, selbstverständlich nicht auf gebaute „Orte“ beschränkt, vermag die Debatte von der Fixierung auf „Original“ versus „Restaurierung/Rekonstruktion“ zu befreien. Die Integrität erhaltener Baudenkmale steht außer Frage; sie ist das Gebot der Denkmalpflege. Jenseits davon aber liegt der weite Bereich von „Bauen im historischen Kontext“, wo es „weniger um Originalität, sondern um Dienst an Historie und Bürgern geht“, wie Nerdinger im Katalog schreibt, dessen Lektüre für alle Denkmalsdebatten Pflicht sein müsste. Wobei sich „Originalität“ allein auf das Baumaterial erstreckt – der architektonische Entwurf ist davon unabhängig.

Den Wiederaufbau beispielsweise der Warschauer Altstadt, mit deren Zerstörung die Nazis die polnische Nation auslöschen wollten, ist als Akt des Widerstandes niemals in Zweifel gezogen worden. Umgekehrt ist Wiederaufbau in Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang als unmoralisch verteufelt worden. „Seelisch unmöglich!“, donnerte Architekt Otto Bartning 1946, „schon das Wörtchen ,wieder’ gefällt mir nicht. Es klingt nach Wiederholung, wieder herbeiholen“.

Doch gerade um das „wieder Herbeiholen“ geht es in den allermeisten Fällen der Rekonstruktion. Die spätantike Pilgerkirche San Paolo vor den Toren Roms wurde nach dem Großbrand von 1823 auf päpstliches Geheiß originalgetreu wiederaufgebaut, als Beleg päpstlicher Kontinuität in der Stadt Petri. Das Kapitol in Washington, von britischen Truppen 1814 abgefackelt, wurde am selben Ort wiedererrichtet, als Verkörperung der Republik. Der Michel, der Turm der Hamburger Kirche St. Michaelis, wurde nach dem Feuer von 1906 sofort wiederhergestellt, damit er „auch künftigen Geschlechtern wieder als Wahrzeichen der Stadt erscheine“. In Vilnius wurde erst in diesem Jahr das großfürstliche Residenzschloss fertiggestellt, das 200 Jahre lang aus dem Stadtbild verschwunden war. In Riga wurde das „Schwarzhäupterhaus“, 1948 von den Sowjets gesprengt, im Jahr 2000 wiederhergestellt, mit allen deutschen Inschriften: „Sollt’ ich einmal fallen nieder / so erbauet mich doch wieder!“ Für die Baumeister von 1600 war diese Forderung selbstverständlich.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, durch alle Zeiten, Länder und beinahe auch alle Kulturen. Der asiatischen Tradition der Erneuerung, ja sogar des Kopierens bestehender Bauten widmet die Ausstellung ein eigenes Kapitel. Berühmt ist der japanische Ise-Schrein, der seit seiner Errichtung im Jahr 690 (!) alle zwanzig Jahre auf dem benachbarten Grundstück in ursprünglicher Technik kopiert wird, ehe das vorangehende „Original“ abgetragen wird. Bei nepalesischen Tempeln spielt die Frage nach der Ursprünglichkeit des witterungsbedrohten Holzes keine Rolle, sondern allein die Authentizität des sakralen Entwurfs. Ähnlich wird es im antiken Griechenland der Fall gewesen sein, wo der frühklassische Zeus-Tempel von Olympia mindestens zwei Mal vollständig neu errichtet wurde.

Damit ist bereits aus der Antike die Frage aufgeworfen, welcher Zustand überhaupt als original angesprochen werden kann. Die Denkmalpflege bedient sich der Fiktion, es gebe einen solchen Zustand. Doch in der Baugeschichte hat es ihn vor dem 20. Jahrhundert und dem Perfektionsanspruch der Moderne nie gegeben. So kommt es seit dem 19. Jahrhundert zur „archäologischen Rekonstruktion“, zur Herstellung eines als ursprünglich oder idealtypisch angenommenen Zustandes. Die Beseitigung barocker Kirchenausstattungen in älteren Gemäuern geht auf das Konto dieser Auffassung, die heutzutage als verfälschend gebrandmarkt wird. Haben die romanischen Kirchen Kölns, die sämtlich nach dem Zweiten Weltkrieg aus Trümmern wiedererstanden sind, je so ausgesehen wie heute?

Rekonstruktion bedeutet nicht schöpferische Impotenz. Die von Italien ausstrahlende Renaissance spiegelt den Wunsch nach Rekonstruktion, nämlich der Vergegenwärtigung dessen, was gli antichi, die „Alten“, gebaut hatten. Diese Wiederaneignung war, wie wir immer wieder staunend betrachten, höchst schöpferisch – eben die Renaissance. Sie reicht bis zu Schinkel und seinen Bauten in Sanssouci, die antike Villen ahnen lassen.

Die Münchner Ausstellung ist so reich an Material, dass es eine Freude ist, ihren verzweigten Fährten zu folgen. Sie schreibt die Architekturgeschichte neu – und gehörte unbedingt nach Berlin, um Klärung in den Streit ums Schloss und seine Barockfassaden zu bringen. Alvaro Siza, der das Lissabonner Chiado-Viertel nach dem verheerenden Stadtbrand 1990 in historischen Formen wiederaufgebaut hat, sagte damals, angesprochen auf seine sonstigen, modernistischen Entwürfe: „Die Frage der Fassaden war mir nicht wichtig“. Weil es um die Erinnerung ging, um die Geschichte des Ortes.

München, Pinakothek der Moderne, bis 31. Oktober. Katalog bei Prestel, 512 S. m. 759 Abb. 45 €, im Buchhandel 69 €.

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