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Münchner Filmfest: Kampf am Küchentisch

Neue Filme mit Susanne Lothar, Robert Gwisdek und Burghart Klaussner: Beim 30. Filmfest München probt das deutsche Kino die Familienaufstellung. Eine Bilanz.

Manchmal zerbrechen Illusionen wie Grissini. „Da hast du deine Scheiß-Hoffnung!“, herrscht Chris ihren Ex-Mann an und knickt dabei die mürben Stangen entzwei, dass es nur so staubt. Mit Hundeblick wollte er sie zu einem Neubeginn bewegen, doch der Psychologin ist der Taugenichts Wolfgang (Michael Kind) nur noch eine lästige Erinnerung. Mit derselben fulminanten Energie will Chris, gespielt von Susanne Lothar, dass ihre Tochter endlich etwas aus sich macht.

Wo die Mutter fast übergriffig agiert, da ist die 30-Jährige fast schmerzhaft zaghaft; nicht einmal ihren kleinen Sohn kann sie Chris’ fürsorglicher Belagerung entziehen. Stefanie Stremler verkörpert die erfolglose Schauspielerin Kathi derart hilflos und bis in die Sprechweise hinein retardiert, dass man sich um die Thirtysomethings am Prenzlauer Berg ernsthaft Sorgen macht. Es kommt zum Kampf am Küchentisch und schließlich doch zu Kathis trotziger Emanzipation, als sie mit ihrer neuen Liebe, einem tollpatschigen Puppenspieler, das atonale Kampflied anstimmt, das dem Film den Titel gegeben hat: „Staub auf unseren Herzen“. Einen „cineastischen Tinnitus“ habe das bei ihm ausgelöst, bekennt Christoph Gröner, der beim 30. Filmfest München als Nachfolger von Uli Maas erstmals die Programmreihe Neues Deutsches Kino betreute.

Die Regisseurin Hanna Doose, Jahrgang 1979, lässt in ihrer Abschlussarbeit für die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb) ihre Schauspieler improvisieren. Statt eines fertigen Drehbuchs gab es ein 20-seitiges Treatment, und für die gesamte Produktion standen nur 20 000 Euro zur Verfügung.

Der ästhetische Terror der abgezogenen Dielen und unlackierten Holzregale herrschte gleich in mehreren deutschen Familienfilmen vor, besonders in „3 Zimmer/Küche/Bad“ von Dietrich Brüggemann. Im Reigen der Jahreszeiten beobachtet er eine Berliner Clique bei ihren Ein- und Auszügen in und aus Wohnungen und Beziehungen. Trotz eines brillanten Robert Gwisdek, der auch in „Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ von Aron Lehmann sein Talent fürs Absurde beweist, verhebt sich Brüggemanns gewollt witziger Episodenfilm am Anspruch, die Generation der unter 30-Jährigen definieren zu wollen.

Offenbar ist Berlin als Ort der familiären Konfliktentladung derzeit besonders beliebt. Das gilt etwa für Constanze Knoches Ensemble-Film „Die Besucher“, der ohne jede Sender-Vorfinanzierung auskommen musste. Darin reist ein ungewohnt kleinlauter Uwe Kockisch aus dem brandenburgischen Schwarzheide zu seinen drei erwachsenen Kindern in die Hauptstadt, „weil ich gar nicht weiß, wie ihr lebt“. „Der Besucher“ nannten sie den viel beschäftigten Chemiker früher, das ist er jetzt auf anrührende Weise wieder.

Die Ratlosigkeit der Eltern, die von ihren ziellos erscheinenden Kindern nicht nur durch den digital gap getrennt sind, offenbart sich ebenso in Sylvie Michels „Die feinen Unterschiede“. Etwas langatmig, aber in nuancierten Dialogen von Razvan Radulescu schildert sie den Zweikampf eines Upperclass-Gynäkologen (Wolfram Koch) mit seiner bulgarischen Putzfrau (Bettina Stucky), die sich beide in absurde Sorgen um ihre Kinder hineinsteigern.

Ob er tatsächlich jeden Monat tausend Euro dafür kassiere, dass er über ihn nachdenke, herrscht der golfspielende Unternehmervater seinen Sohn Niko an. Zu sehen in Schwarz-Weiß in dem schönsten Berlin-Film seit langem, „Oh Boy“ von Jan-Ole Gerster. Hochverdient erhielt er den Förderpreis für das beste Drehbuch (10 000). Philipp Kirsamers Kamera begleitet einen Tag und eine Nacht lang den Endzwanziger Niko Fischer durch die Stadt, unterlegt von heiter-melancholischer Jazzmusik. Tom Schilling („Crazy“) ist der kongeniale Hauptdarsteller und entscheidende Mentor des Films. Niko Fischer erinnert in seiner nachdenklichen Lässigkeit an Edgar Wibeau in „Die Leiden des jungen W.“. Mit einer Seniorin probiert er deren Komfortsessel aus oder lässt sich von seinem entfesselten Kleinbürger-Nachbarn (großartig: Justus von Dohnányi) Fleischbällchen aufdrängen.

Die Zumutungen durch angebliche Verwandte auf einen makabren Gipfel treibt der georgische Regisseur Dito Tsintsadze, in München ein guter Bekannter, mit „Invasion“. Burghard Klaußner lebt in einer leer stehenden Saalfelder Fabrikantenvilla als einsamer Witwer ganz in seinen Erinnerungen, bis ihn auf dem Friedhof eine ebenso entfernte wie überdrehte Verwandte (Heike Trinker) anspricht. Nach und nach nistet sich ihre Sippschaft samt „kriminellen Osteuropäern“ in der Villa ein, bis es dem höflichen Gastgeber in bester Dürrenmatt’scher Krimitradition zu viel wird.

Lobend erwähnt wurde Michaela Kezeles Drama „Die Brücke am Ibar“, das den Bernhard-Wicki-Nachwuchspreis gewann. Kezele, Tochter einer Serbin und eines Kroaten, erzählt nicht ohne Pathos, wie sich die ersten Nato-Bombardements auf Serbien 1999 (mit mutmaßlich urankontaminierter Munition) auf die Menschen an den Ufern des Flusses Ibar im Norden des Kosovo auswirkten. Die Kroatin Zrinka Cvitešic spielt eine serbische Witwe, die einem angeschossenen Albaner (Mišel Maticevic) Zuflucht gewährt.

Franziska Schlotterers Debütfilm „Ende der Schonzeit“, eine deutsch-israelische Koproduktion, reflektiert ebenfalls die Geschichte, ausgehend von einer Zeitungsnotiz. Im Jahr 1942 versteckt ein kinderloses Bauernpaar im Schwarzwald einen Juden, der statt des Ehemanns für Nachwuchs sorgen soll.

Innerhalb der Reihe Neues Deutsches Kino, die trotz diverser Reformen unter der jetzigen Filmfest-Leiterin Diana Iljine erhalten blieb, stellt „Wir wollten aufs Meer“ von Toke Constantin Hebbeln (Kinostart am 13. September) eine Ausnahme dar. Hervorragend recherchiert, schildert das ausladende Drama mit deutlicher (und laut Hebbeln gewollter) Referenz an „Das Leben der Anderen“, wie drei Freunde im Rostock des Jahres 1982 zur Handelsmarine wollen und von der Staatsmacht daran gehindert werden. Alexander Fehling, der sinister brillierende August Diehl und vor allem Ronald Zehrfeld verströmen anfangs eine anarchische Lebensfreude, die an die Brigade Balla aus Frank Beyers „Spur der Steine“ erinnert. Doch die drei kommen nicht aufs Wasser, sondern ins Gefängnis beziehungsweise als Hauptamtlicher zur Stasi (Diehl). Nie war das Meer so weit entfernt wie in diesem beeindruckenden Werk.

Diane Iljine kann eine positive Bilanz ziehen: 1983 von Eberhard Hauff gegründet, kam Deutschlands größtes, hervorragend organisiertes Publikumsfestival auch im Jubiläumsjahr auf geschätzte 70 000 Besucher, bei etwas weniger Filmen in mehr Vorstellungen. So vergrößerte sich die Chance, die Leguanaugen von Fassbinders Jugendfreund Udo Kier zu erspähen oder Melanie Griffith zu erleben. Beim CineMerit Award hielt Dominik Graf auf die Repräsentantin eines „anderen Hollywood“ eine bewegende Laudatio: „Wie Sie spielen, das ist eine Art schauspielerischer Tanz über einer tiefgrünen Untiefe.“

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