zum Hauptinhalt

Kultur: Münchner Uraufführung: Wo die wilden Menschen wohnen

Es war einmal ein großer Bahnhof, wie er im Buche steht, mit einer Anzeigentafel, einem Kiosk und einer Bank. Er stand im neuen Probengebäude der Münchner Kammerspiele, auf einer Bühne hoch und breit wie das Original, das an der Maximilianstraße noch zwei Jahre im Umbau ist.

Es war einmal ein großer Bahnhof, wie er im Buche steht, mit einer Anzeigentafel, einem Kiosk und einer Bank. Er stand im neuen Probengebäude der Münchner Kammerspiele, auf einer Bühne hoch und breit wie das Original, das an der Maximilianstraße noch zwei Jahre im Umbau ist. In diesem Bahnhof sollte das neueste Stück der schon nicht mehr ganz so neuen deutschen Dramatikerinnenhoffnung, Theresia Walsers "So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr", uraufgeführt werden. Das war im Mai.

Was auch lange her ist: dass ein Theater am seidenen Faden hängt. Die neuen Proberäume zum Beispiel wurden mit 600 Kilometern elektrischer Leitungen verkabelt, aber tragfähig, fand der TÜV im Frühling, sei das alles nicht. Da waren schon vier Firmen pleite, die an den neuen Kammerspielen herumgewerkelt hatten, und der Satz: "Das Leben ist eine Baustelle" galt nur noch unter sehr guten Freunden als zitierfähig. Kommt dazu, dass nicht nur Abbrüche, sondern auch Aufbrüche anstehen: Dieter Dorn geht von den städtischen Kammerspielen ans Bayerische Staatsschauspiel - und sucht schon wieder eine neue Halle (diesmal für das Marstalltheater). Frank Baumbauer, der Dorn folgt, hat schon eine gefunden: In den beiden nächsten Spielzeiten finden die Kammerspiele in einem ehemaligen, im äußersten Fall für 2000 Besucher nutzbaren Industriedepot an der Dachauer Straße statt. Der reine Verschiebebahnhof, aber vom Bahnhof spricht man im Augenblick vielleicht besser nicht mehr, wenn im guten, alten, neuen Werkraum gerade noch sechs Stühle davon übrig geblieben sind.

Sechs Stühle. Drei Knaben (A, B, C), drei weitere Schauspieler in verschiedenen Rollen. Das ist es schon. "Man hört das Geräusch von Fliegen, wie im Sommer, wenn irgendwo Fleisch verdirbt", schreibt Theresia Walser in der ersten Regieanweisung. Es ist gut, sie genau zu studieren, denn in Walsers Stücken steht nichts von ungefähr auf dem Papier. Wie sie genau gemeint sein könnte, ist eine andere Frage. Das Geräusch von Fliegen - gar nicht so einfach. Über die Lautsprecher knackt es leise, als ob jemand welche zerträte. Später wimmert manchmal eine Bassgitarre, noch leiser, noch dunkler. Könnten auch Herzschläge sein. Misuk, hätte Brecht gesagt. Sonst gibt es vieles einfach nicht bei Regisseur Jan Bosse. Wenn schon keinen Bahnhof, hat er sich gedacht, dann eben gar nichts.

Nichts. Keinen Stoffsack, keinen Rosenstrauß, kein Foto, keinen Fahrplan, keinen Apfel, keinen Stuhl und kein Messer. Nichts zum Hantieren. Nur Sprache. Aber was heißt nur. Von Anfang an haben Theresia Walsers Kunst-Figuren, aus denen in ihren jüngsten Stücken richtige Menschen geworden waren, mit Wörtern jongliert, um zu überdröhnen (oder zu überflüstern), was sonst wie ein Absturz ausgesehen hätte. Immer müssen sich diese Personen etwas beweisen: Die Sängerin in "Kleine Zweifel" zeigt, dass sie ein Vorzimmer-Fegefeuer beim Schlagerwettbewerb überstehen kann. "Das Restpaar" weiß, dass man sich auch vom siebzehnten Vorsprechen auf dem Theater nicht einschüchtern lassen sollte. "King Kongs Töchter" schließlich lehren, dass auch Altenheimbewohner noch tolle Artisten sind, man muss ihnen nur einmal die Maske richtig malen.

Über viele Sachen, die sie sieht, ist Theresia Walser einfach wütend. Beim Schreiben jedoch soll man vom Schnauben nichts merken. Man merkt auch nichts und findet nach einer Zeit Sätze wie diesen normal: "Und Frau Alberti sitzt jetzt tiefer in unseren Sesseln als man überhaupt nur sitzen kann und wartet täglich, dass ihre Liebe mal da rauspocht, und stünden wir nicht ständig hinter ihr, käm die auf ganz andere Gedanken." Theresia Walsers Menschen reden, also sind sie. Wenn sie nicht mehr reden, können sie genauso gut von der Bühne in die Garderobe gehen, und das tun sie auch. Vorher haben sie sich ihr Leben erzählt - die drei Jungen, die keine Haare mehr haben und das Ehepaar Hans Rudi und Rita, der Pole und der Grieche und Marie und Friedel. Das heißt, sie haben erzählt, was von ihrem Leben noch übrig ist: lauter Dum-dum-zisch-blök-wusch-Fernsehgeräusche oder lauter Serienschnipsel und Werbeeinlagen, jederzeit abrufbar, bitte sehr, bitte gleich, Verletzungen aller Arten, aber auch Sehnsucht (nach der Heimat, nach einer geliebten Frau). Sie haben von Liebe aneinander vorbeigesprochen und von Einsamkeit übereinander hinweg. Manchmal fast alle zugleich und öfter ganz alleine.

Theresia Walser, die bisher mit Etüden geglänzt hat, verfügt ziemlich mühelos über einen fast sinfonischen Apparat an Stimmen und Stimmungen. Wenn der ältere Knabe in Turnhose und Nylon-T-Shirt mit seinem Satz "Der Fernseher ist die allerbeste Amme, die nie einen Schlaf verlangt, da lieg ich vor ihm am Boden eingerollt, als könnte ich hoffen, dass er irgendwann dieses Opfer annimmt" hochfliegt, kontert ein anderer mit der Phrase "Mach das nicht, Alter!" und holt ihn runter. Das Poetische und das Proletarische, hohes und niederes Lied: Hier steckt alles drin.

Nun merkt man den Schauspielern Sibylle Canonica, Franziska Walser, Hans Löw, Oliver Nägele, Heiko Ruprecht und Marc Oliver Schulze bei aller Kunstfertigkeit leider an, wie schwer es ihnen fällt, das Ganze lediglich auszusitzen (was einschließt, das man vom Stuhl fallen kann). Trotzdem: Sie vibrieren ganz virtuos. Sie sind komisch und anrührend, aber sie wären es um vieles mehr, wenn sie die Szenen aus dem beschädigten Leben auch ausspielen dürften. Walsers Stück ist eine viel größere, schwärzere Operette als dieses schnelle, vielstimmige Oratorium, das Jan Bosse gerade noch daraus macht. Und man wird das Gefühl nicht los, dass er sich die Walser oft einfach nur vom Leib halten möchte. Weil ihre Wörter weh tun. Wie wild es in all diesen Menschen sein könnte - so wild eben, wie es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr ist - , sieht man in München nicht richtig.

Von Marie, die sich so verrückt geguckt hat vor dem Fernseher, dass sie unter ihr eigenes Sofa kotzen muss, zeigt Sibylle Canonica ganz großartig eine schauderhafte Außenansicht. Weiter kommt sie nicht ran. Man weiß vom Text, dass mehr dahinter steckt, aber für dieses Mal bleibt es dabei. Jan Bosse ist sehr fix. Fertig wird er mit Theresia Walser nicht. Irgendjemand wird ihr irgendwo den großen Bahnhof machen müssen. Sie hat ihn verdient.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false