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Rundgesang. Dirigent Teodor Currentzis und sein Chor.

© Kai Bienert/Musikfest

MusicAeterna beim Musikfest: Lass Gnade walten

Musikalischer Bewusstseinsstrom von Hildegard von Bingen zu György Ligeti, über Schnittke zu Purcell: MusicAeterna zu Gast beim Musikfest.

Weit ziehen sich die Scheinwerfer zurück, still liegt das Podium der Philharmonie in einem Dämmerlicht, das an die frühesten Morgenstunden erinnert, an das Ende einer Nachtwache vielleicht. Von hinter der Bühne dringen Klänge, die zwischen Gong, Zimbel und Glocke pendeln, zu Einkehr rufen, zu Exerzitien. Mit Kerzen in der Hand, gekleidet in mönchisch schwarze Gewänder, betritt langsam vor sich hin tönend der Chorus MusicAeterna den Raum. Die Sängerinnen und Sänger bilden einen Kreis um ihren Dirigenten Teodor Currentzis, der auch als Chorleiter über beschwörerische Kräfte verfügt. Und über den Mut, einen musikalischen Bewusstseinsstrom zu formen, der von Hildegard von Bingen direkt zu György Ligeti fließt und dann weiter über Schnittke zu Purcell.

Beim Musikfest präsentiert Currentzis einen Abend, der Mozarts Requiem ein A-Capella-Programm voranstellt, einen Pilgerweg durch 800 Jahre geistlicher Musik, getragen von der Bitte um Vergebung und der Hoffnung auf das Ewige Licht inmitten der Dunkelheit. Aber wer wollte diesen wunderbaren Stimmen aus Perm am Ural etwas abschlagen? Diesem verschworenen Kollektiv, das neben staunenswerter Klangkultur auch einen wilden Stimmanteil in sich trägt, etwas Kehlig-Rauhes, Dringliches. Eine Stunde dauert der Rundgesang, dann öffnet sich der Kreis mit Purcells „Remember not, Lord, Our Offences“ zum Publikum. Die Sängerinnen und Sänger greifen zu gestischen Verstärkungen ihrer ererbten Sündenlast, und man atmet erleichtert aus, weil es noch Dinge gibt, die dieser Chor nicht umfassend beherrscht.

Spannung zwischen Himmel und Erde

Dann endet die Séance, es muss umgebaut werden für Mozarts Requiem, doch die Präsenz der Stimmen hallt nach, überdauert mühelos das Pausengewimmel. Sie prägt auch das Klangbild, wenn die Sänger und das stehend spielende Orchester von MusicAeterna eine kraftvolle Einheit bilden, die keinerlei Weichlichkeit kennt. Gerne wirft man Currentzis vor, sein Musizieren sei atemlos und dauererregt, kenne kein Legato, alles bleibe unverbundener Effekt. Ja, seine Tempi sind schnell gewählt, die Akzente hart gesetzt, doch dieser Mozart hat eine vokale Eindringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Melancholische Wattigkeit und nur halb Gefühltes finden hier keinen Platz.

Statt dessen spürt man die Akribie, die hinter dem emphatischen Spiel steht, das Verlangen, eine gültige, weil bewegende Lesart des Requiems aufzubieten. Die Aufmerksamkeit, mit der Currentzis sein feines Solistenquartett umsorgt, hat selbst in der Philharmonie Seltenheitswert. Dem Dirigenten gelingt das schillernde Kunststück, glaubhaft zu machen, dass er jederzeit in verschärfte Klausur gehen oder sich irdischem Rausch bis zur kompletten Erschöpfung hingeben kann. Die Spannung zwischen Himmel und Erde will er nicht aufheben, gibt mit seinen furiosen Ensembles aber einen Hinweis darauf, dass der Platz des Menschen irgendwo dazwischen anzutreffen ist. Das muss man aushalten. Und mit Mozart auf Gnade hoffen.

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