zum Hauptinhalt
Der Boxer und das Mädchen. Rocky (Drew Sarich) und Adrian (Wietske van Tongeren) im Infight. Foto: Stage Entertainment

© Stage Entertainment/Morris Mac M

Musical: Urfaust

Ein unwahrscheinlicher Glücksfall: Die Boxfilmlegende „Rocky“ ersteht als Musical auf der Hamburger Reeperbahn wieder

Rocky hat alles dafür getan, Weltmeister zu werden. Er hat im Kühlhaus auf Rinderhälften eingedroschen, er hat rohe Eier getrunken, ist morgens um vier durch die Winterkälte seiner Heimatstadt Philadelphia gerannt, hat sich verhöhnen lassen und Blut gespuckt. Nur singen musste er bisher nicht.

Von Boxern sagt man, dass sie lieber alles andere geworden wären als Boxer, wenn sie nur irgendein nützliches Talent besessen hätten. Und obwohl einige Champions große Poeten geworden sind, mangelt es ihrem Dasein doch sehr an der passenden Harmonie. Boxer sind eben nur ihre Körper, wie Wolf Wondratschek meint. Alles dreht sich darum, dass dieser Körper Schläge einstecken und stark genug sein muss, welche auszuteilen. Ihn nach einer solchen Tortur mit einem Handtuch über der Schulter vor seinem Spind sitzen und ein Lied über sein Unglück singen zu sehen ist einfach nur lächerlich. Oder etwa nicht?

Dass Rocky, der tumbe Kämpfer, eine Seite hat, die so viel emotionale Extravaganz zulassen würde, entsprang vermutlich nur einer vagen Vorstellung, als vor sieben Jahren die Arbeiten zu einer Musicalversion von „Rocky“ begannen. Wie sollte ein vom Leben abgeschlagener Bursche wie dieser Rocky Balboa, mit dem der in Hollywood abgeschlagene Schauspieler Sylvester Stallone die Figur seines Lebens geschaffen hatte, der kaum einen Satz geradeheraus sprechen konnte, der seine Hände tief in den Hosentaschen vergrub und mit seiner schiefen Visage wie der geborene Verlierer aussah, wie sollte aus dem ein Sänger werden?

„Rocky“, das Musical, jedenfalls ist ein kleiner Glücksfall. Es immer machen zu wollen, war ja nur die eine Sache. Die andere, schwierigere, bestand darin, es mit einem Mythos aufzunehmen, dessen Ursprünge längst verblasst waren im grellen Licht der symbolischen Überhöhung. Aber die Macher sind sich dessen bewusst geblieben. Am Broadway sind sie keine Unbekannten. Autor Thomas Meehan hat Hits wie "Annie" oder das hintersinnige "The Producers" geschrieben, für die Musik war mit Stephen Flaherty ein Mann verantwortlich, der zuvor für "Ragtime" zahlreiche Preise bekommen hatte. Doch mit "Rocky" konnten sie am Broadway nicht landen. So inszenieren sie ihre geistreiche, für die Hamburger Reeperbahn umkonzipierte Show in dem Wissen, dass es Wichtigeres gibt als Showeffekte. Dass sich unweit des TUI Operettenhauses die Ritze befindet, das berüchtigte Boxer-Lokal, in dem „Der schöne René“ Weller verkehrte. Und dass es noch immer Knochenbrecher wie Rocky in dem Amüsierviertel gibt, die als Boxer angefangen haben, Geldeintreiber wurden und als Schläger enden.

Als sich Sylvester Stallone selbst – so viel sei vorweggenommen – am Abend der Medienpremiere einem begeisterten Publikum zeigte, sagte er: „This is not about me“, das Stück handele nicht von ihm, „it’s about the Rocky in all of us. You always want the best for yourself.“ Das klang natürlich wunderbar amerikanisch. Der Rocky in jedem. Und wollen wir nicht alle nur das Beste für uns erreichen? Jep, klar.

Aber da ist das Problem, dass in Hamburg nicht einer so sehr an den amerikanischen Traum glauben würde, wie Rocky das fünf Kinofilme lang getan hat. Dass jeder Mensch eine Chance verdient hat – wer glaubt das schon in der „unbarmherzigen und uneinsichtigen Welt eines kleinen, feinen Sozialstaats“, in dem nach Wondratscheks Worten noch jeder Rocky kleingemacht worden ist? Ob er nun Richard „der Prinz von Homburg“ Grupe oder Graciano „Rocky“ Rocchigiani heißt? Rocky, die Musical-Figur, muss die Sympathie der Deutschen anders erringen.

Mich hat er mit seinem ersten Song gekriegt. Rocky, gespielt von Drew Sarich, der Stallones eigenwilligen Körperschwung wunderbar nachahmt, hat da bereits einen ersten Fight überstanden. Hat einen Gegner bezwungen, den der Chef des Box-Gyms, Mickey, seiner für unwürdig hält. Rocky steht also mal wieder ohne Anerkennung da, und bald auch ohne Spind, denn Mickey wird ihn vor die Tür setzen. Und was tut Rocky? Er singt den beiden Schildkröten zu Hause ein tölpelhaftes, herrliches Lied über seinen Stolz. Es mündet in der Zeile: „Die Nase hält noch.“

Was glaubten wir denn, würde einem Boxer anderes einfallen?

Da weiß man schon mal, dass auf der Bühne eine Type steht, der man glauben darf. Aber es wird noch besser. Mit dem Auftritt Adrians, der frigiden, von Rocky seit gemeinsamen Schultagen verehrten Jungfer, öffnet sich das Drama einem unerwartet starken Thema. Denn es ist hier nicht das Mädchen, dass den harten Kerl vor sich selber rettet. Adrian ist die viel prekärere Figur.

Stallone hatte seine Geschichte in das Jahr 1975 verlegt, als in der Millionenmetropole Philadelphia mit dem sogenannten Phillysound die Soulmusik groß wurde. Besonders schwarze Frauen demonstrierten ihre Unabhängigkeit und eine Sexyness, die für den weißen Mann unerreichbar blieb. Etwas von diesem erotischen Feuer scheint nun auch in „Rocky“ auf, wenn lodernde Soul-Nummern aus dem Orchestergraben peitschen und Adrian umgeben ist von unersättlichen Frauen. Aber Adrian, verkörpert von Wietske van Tongeren, hat sich in einen Kokon aus Tugendhaftigkeit und Furcht verkrochen, sie hat auch eine plausible Antwort dafür. Sie will nicht das Leben ihrer Eltern führen, in dem der Rausch der Jugend verebbte, und übrig blieben Rohheit und Gewalt. Dann schon lieber sich auf gar nichts einlassen.

„Rocky“ erzählt davon, wie dieser Kokon Risse bekommt und zerbirst. Diese menschliche Dimension hätte leicht untergehen können in dem äußerst rasant choreografierten Spektakel um Rockys große Chance, gegen den amtierenden Weltmeister Apollo Creed (Terence Archie) antreten zu dürfen. Sie tut es nicht. Sie verkommt auch nicht zum Rührstück. Das verhindert einerseits die Musik. Die jongliert bar jeder Sentimentalität mit einer Handvoll mitreißender Soulmelodien und streut auch geschickt das Rockmotiv von „Eye Of The Tiger“ ein. Andererseits bleiben Adrian und Rocky auch an der Elbe ein unmögliches Paar. Sicher, sie singen bezaubernde Duette, sie umschlingen und küssen einander. Trotzdem kann sie nicht ertragen, ihn kämpfen zu sehen, und er steigt in den Ring, um sich nicht als Versager fühlen zu müssen. So viel zur Theorie, dass Liebe alle Schwächen ausgleicht.

Vielleicht ist unsentimental ohnehin das größte Lob, das man dem Regisseur und Yale-Absolventen Alex Timbers machen muss. In dem kleinen Operettentheater ist Schmutz, wo er nötig ist, fließt Blut, wenn es unvermeidlich ist, und strebt die Handlung mit beeindruckender Dynamik dem finalen Fight entgegen. Und am Ende ist Rocky viel mehr der Boxer mit dem begrenzten Wortschatz geblieben, als einer, der jetzt auch singt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false