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Kultur: Musicals für die Freie Volksbühne

Ivan Nagel war ein weiser Mann.In seinem Theatergutachten, das er im Auftrag des Kultursenators über die Gestaltung der wiedervereinigten Berliner Theaterlandschaft erstellt hatte, prophezeite er der verblaßten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine schwierige Zukunft.

Ivan Nagel war ein weiser Mann.In seinem Theatergutachten, das er im Auftrag des Kultursenators über die Gestaltung der wiedervereinigten Berliner Theaterlandschaft erstellt hatte, prophezeite er der verblaßten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine schwierige Zukunft.Wenn man das Haus einem Visionär wie Frank Castorf gäbe, lautete sein Credo, dann würde es entweder zur innovativsten und wichtigsten Bühne der Stadt werden - oder endgültig untergehen.Das Volksbühnenwunder steht seither exemplarisch für die Hoffnungen der Stadt, seine altehrwürdigen Institutionen vor der Bedeutungslosigkeit zu retten.Einmal ist es gelungen.

Eigentlich sah es nur nach einem Intendantenwechsel aus.Aber, seitdem gestern der neue Leiter des Theaters des Westens, Elmar Ottenthal, seine Vorstellungen öffentlich vortrug, ist klar, daß der Musicalbühne eine ähnliche Radikalkur bevorsteht.Nur unter umgekehrten Vorzeichen.Visionäre hatte das Haus zur Genüge.Jetzt braucht es einen Kaufmann.Einen, der sagt, was man sich im Schatten eines 20 Millionen-Etats hier zu denken bislang nicht getraute: "Ich will die Einnahmen steigern."

Das sind markige Ankündigungen eines in Aachen erfolgsverwöhnten Theatersanierers.Sie wirken, als hätte es die Auseinandersetzungen seines Vorgängers Helmut Baumann mit Kultursenator Radunski um die Absenkung des jährlichen Etats von 25 auf 15 Millionen Mark nie gegeben.Ottenthal tritt eine Flucht nach vorne an.Denn er will künftig mit seiner Subventionssumme sogar zwei Häuser bespielen, das TdW und die Freie Volksbühne in der Schaperstraße.Mit den Betreibern der Freien Volksbühne werde bereits über eine Nutzung verhandelt.Angestrebt wird ein Fünfjahresvertrag.Für den 4.September ist bereits die Premiere von "Rent" angekündigt.Damit müßte Ottenthal insgesamt etwa 2500 Plätze pro Abend füllen.

Die Eckpfeiler seiner im Herbst beginnenden Intendanz lauten deshalb knapp: Uraufführungen in allen Stilrichtungen, verbessertes Marketing, längere Laufzeiten und eine zweite Bühne.Damit verabschiedet sich das Theater des Westens von seiner traditionellen Linie.

Das spürte man bereits bei der Vorstellung des Programms in der mondänen Umgebung des neu renovierten Postmuseums.Alles geriet eine Nummer größer, professioneller und investorenfreundlicher als gewohnt.Ottenthal übernimmt zwar ein Theater samt Ensemble, Orchester und Technik, aber er präsentierte ein Dienstleistungsunternehmen."Früher wurden Musicaltheater gebaut, weil es ein Stück gab.Heute gibt es sehr viele Theater, aber es fehlen Stücke.Wenn Sie Soft- und Hardware vergleichen, dann wäre ich lieber Microsoft.Da wir als Produzenten in neue Stücke investieren, muß auch Geld zurückkomen an den Nutzungsrechten - dieser Gedanke ist eine der Säulen meiner Überlegung", erklärte Ottenthal."Ich denke, daß wir sicher ein anderes Image bekommen, dadurch daß wir uns stilbildend mit neuen Stoffen beschäftigen.Ich glaube, daß heute Sound-Design eine ganz wichtige Rolle spielt."

Stattdessen setzt Ottenthal auf Werke, die zeitgenössische musikalische Strömungen stärker integrieren.Die für Mai 2000 geplante Uraufführung von "Falco meets Amadeus" über das Leben des österreichischen Popstars Falco und das ebenfalls in Planung befindliche Rock-Musical "Excalibur" siedeln sich an dieser Nahtstelle zum Pop-Spektakel an.Für letzteres steht den Komponisten Michael Ernst und Johnny Bertl der britische Klang-Guru Alan Parsons zur Seite, den Ottenthal eigens für die Pressekonferenz eingeflogen hatte.

Es sei schwer, gibt Ottenthal zu, für die Entwicklung neuer Stoffe, die passende Musik zu finden, "eine Musik, die nicht gearbeitet ist wie bei einer Oper." So macht den Auftakt am 25.September zwar das vielerorts erfolgreiche Stück "Chicago", das solchen Anforderungen vollauf entspricht.Aber das Dilemma wird sichtbar bei Projekten wie "Nijinsky" und "Dornenvögel".Denn in beiden Fällen setzt sich die Musik aus Zitaten, Anspielungen und Kopien zu einem Stilmix zusammen.

"Einer der wichtigsten Punkte ist die Zusammenarbeit mit den Hochschulen, weil gerade dort die Kreativität ist, die ich benötige.Ich werde den Leuten ein Forum im zweiten Haus geben, von wo aus sie sich entwickeln können." Der Volksbühnen-Coup - so er denn glückt - könnte jedoch zweierlei bedeuten: Entweder versteckt sich dahinter eine Umwegsubventionierung, die den neuen Betreibern des traditionsreichen Theaters auf Kosten des TdW zu Hilfe eilt, oder es handelt sich um eine geniale Idee Ottenthals, um zu verhindern, daß sich dort wieder eine Musical-Konkurrenz etabliert.Und so ist er vielleicht doch ein Visionär, wenn er von einem Gegenwarts-Musical träumt, das unter dem Einfluß von Musikern entsteht: "Es gibt nichts Kreativeres als sich mit etwas zu beschäftigen, bei dem man sagt: Damit treffen wir den Nagel auf den Kopf."

KAI MÜLLER

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