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Kultur: Musik für 1000 Finger

KLASSIK

Da stanzt ein kleiner Mann über Monate winzige Löcher nach genau vermessenen Zeichnungen in eine Papierrolle und vertraut diese sodann seinem Klavier an. Das ist mit einem Selbstspielmechanismus ausgestattet, jeder der 88 Töne wird über eine Vakuumpumpe gesteuert. Solcherart gefüttert, toben die Tasten wie von Geisterhand berührt und entfachen Klangstürme, die selbst einen Horowitz alt aussehen lassen.

Wenn Jürgen Hocker, Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für selbstspielende Musikinstrumente, die Arbeit des kauzigen mexikanischen Komponisten Conlon Nancarrow im Musikklub des Konzerthauses präsentiert, kann er allenfalls eine Ahnung von Aufwand und Faszination derartig komplexer Mechanik vermitteln. Der Bösendorfer-Selbstspielflügel von 1926 hat aber nicht nur musealen Reiz, er stellt auch unsere Musikwahrnehmung auf die Probe: Die Abwesenheit des Tastenvirtuosen wird dem Hörer schlagartig bewusst. Erst erscheint sein Fehlen als Erleichterung, dann spürt man, wie sehr der visuelle Eindruck im Konzert doch zur Vermittlung musikalischer Inhalte beiträgt. Nancarrows „Studies for Player Piano“ entwickeln also eine ganz eigene Faszination, entlocken sie dem Instrument doch Musik, die für Menschen nicht spielbar ist. Mehrschichtige Zeitstrukturen waren sein Anliegen, aberwitzige Kaskaden unabhängiger Stimmen jagen sich, treffen sich und fallen wieder auseinander. Ob Nancarrow, wie György Ligeti sagt, der bedeutendste Komponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, darf bezweifelt werden. Aber für amerikanische Außenseiter hatten die in ihrem Dogmatismus schmorenden Europäer ja schon immer ein großes Herz.

Ulrich Pollmann

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