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© s: Kai-Uwe Heinrich

Musik im Netz: Die Verwurstung der Welt

"Sgt. Pepper’s" als Reggae, Hits im Cut-up-Gemetzel: Durch das Internet gibt es so viel recycelte Musik wie nie zuvor.

Sie können es nicht abwarten. Schon in den ersten zehn Sekunden, während das Orchester noch stimmt, zündet jemand eine Wasserpfeife an. Heftiges Husten ist zu hören. „Yeah, Easy Style“, ruft eine Stimme. „Give de people dem some rubbadub Music.“

Dann setzt „Sgt. Pepper’s Lonely Heart’s Club Band“ ein, mit dicken Bläsersätzen und Reggae-Groove. Das ganze Album. So ist es die Art der Easy All Stars. Die New Yorker Band hat es sich zur Aufgabe gemacht, Klassiker der Popgeschichte in den Reggae-Kosmos zu transferieren. Ein Vorhaben, das ihnen zuvor bereits mit „Dub Side Of The Moon“ nach Motiven von Pink Floyd gelungen war. Für Beatles-Verhältnisse ist das gerade erschienene Album allerdings nur ein Tropfen in einem Ozean. Jeder ihrer Songs existiert in Hunderten von Versionen, allein von „Yesterday“ gibt es etwa 1600. Bereits vor 20 Jahren nahm sich die slowenische Band Laibach das komplette „Let It Be“-Album vor. Doch das breite Grinsen beim Anhören der liebevoll gemachten „Sgt. Pepper’s“-Einspielung dürfte auch unbekifften Hörern so schnell nicht vergehen.

Die Easy All Stars sind eine von vielen Bands, die sich auf ungewöhnliche Interpretationen verlegt haben. Das französische Projekt Nouvelle Vague spült Klassiker der New Wave in die warmen Gestade des Bossa Nova, Señor Coconut – eigentlich ein Frankfurter DJ mit dem unspektakulären Namen Uwe Schmidt – tunkt seine Vorlagen in elektronisch-ironische Salsa, die Berliner Band The Boss Hoss dreht in Richtung Country & Western. The Dynamics, Malik Adouane, Cat Power. Die Liste dieser originellen Umdeutungskünstler ließe sich endlos weiterführen. Sie würde trotzdem nur die Spitze dessen wiedergeben, was der Musikmarkt seit Jahren verzeichnet: eine stetige Zunahme von Coverversionen.

Nie zuvor gab es so viel recycelte Musik wie heute. Der Musikwissenschaftler Marc Pendzich hat ermittelt, dass sich der Anteil der Coverversionen in den deutschen Charts seit den achtziger Jahren etwa verdreifacht hat. Der Anteil liegt in den Single-Charts im Schnitt bei 20 Prozent. Jeder fünfte aktuelle Hit ist somit ein Wiedergänger. Und noch eine Zahl: Die Internetdatenbank coverinfo.de führt derzeit über 180 000 Stücke auf. Allein im letzten Monat kamen 1300 neue hinzu.

Als Coverversion bezeichnet das Lexikon ein Musikstück, das von jemand anderem als dem ursprünglichen Interpreten gespielt wird. Damit ist so ziemlich alles gemeint: bloßes Nachspielen, Verwursten in Dance-Compilations oder eben auch respektvolle Neuerschaffung. Intuitiv könnte man vermuten, die Geschichte der Coverversion beginne mit dem ersten Höhlenmenschen, der ein Lied seines Nachbarn nachsang. Musik wiederzugeben, die einem selbst oder anderen gefällt, gilt als elementare Kulturtechnik. Die Notation machte Musik reproduzierbar, klassische Komponisten griffen Volkslieder auf, widmeten einander Variationen. So richtig in Schwung aber kam die Wiederverwertung erst durch die industrielle Vervielfältigung. In den fünfziger Jahren waren es vor allem weiße Rock’n’Roll-Musiker, die mit den Stücken von schwarzen Komponisten Erfolg hatten. Bis Mitte der Sechziger war keineswegs üblich, dass Sänger ihre Stücke selbst schrieben. Erst danach kam ein bis heute gültiger Geniekult auf, der alles andere als die Originalleistung ablehnte und in einsamen Alleskönnern wie Sly Stone oder Prince gipfelte. Seither gelten Coverversionen als „abgekupfert“, wenn nicht gleich „geklaut“. Als wäre nicht auch Interpretation eine Kunst.

Welche Geschichten ein Lied mitnehmen kann, wie es sich selbst im Lauf der Zeiten verändert, das zeigen die Versionen von „La Paloma“, die von den rührigen Musikarchäologen des Trikont-Labels auf mittlerweile sechs CDs zusammengetragen wurden. Die Kraft der Melodie blieb über die Jahrzehnte unverändert, das Stück erzählt in seinen verschiedenen Erscheinungen als Shanty, Rock’n’ Roll, Krautrock oder Flamenco immer wieder Kulturgeschichte.

Natürlich riecht es nach schnellem Profitinteresse, wenn „Because The Night“ von Patti Smith zum Großraumdiscostampfer entstellt wird. Solche Brechstangenprodukte machen einen großen Teil der Chart-Ware aus. Aber gilt es auch umgekehrt für jene schmerzvoll-leise Akustikversion von „Smells Like Teen Spirit“, die Patti Smith auf ihrem letzten Album herausheulte? Oder für Madonnas „Hung Up“, das große Teile des Abba-Hits „Gimme, Gimme, Gimme (A Man After Midnight)“ inkorporierte?

Manchmal muss ein Song auch einfach erst in die richtigen Hände geraten, wie „Comme d’habitude“ von Claude François, das als „My Way“ erst von Paul Anka und dann von Frank Sinatra gecovert wurde. Im Jazz ist es von jeher gute Tradition, fremde Stücke zu adaptieren. Es geht dabei nicht nur darum, was, sondern vor allem wie man es tut. Die Haltung ist entscheidend. Und da gibt es grundlegende Einschnitte. Musik ist heute immer und überall nur einen Klick entfernt. Weite Teile des öffentlichen Raums sind beschallt, man trägt auf MP3-Playern Musikmengen herum, die früher für einen ganzen Plattenladen genügt hätten.

Das Verständnis von Authentizität änderte sich schon mit dem Aufkommen der Musikclips in den Achtzigern. Für Erfolg am Massenmarkt gewann der visuelle Eindruck an Bedeutung gegenüber dem musikalischen. Mit Techno und HipHop übernahmen zwei Recycling-basierte Musikstile die Vorherrschaft. Schließlich wurde die Produktion im Studio selbst komplett digitalisiert. Vorgefertigte Sounds und Beats gehören dort zum Arbeitsalltag. Oftmals werden sogar gesampelte Samples gesampelt. Zum Beispiel bei „Just Be Good To Me“ von Karmah aus dem Jahr 2006, das auf dem Song „I’ll Be Missing You“ von Puff Daddy aus dem Jahr 1997 basiert, welcher seinerseits auf „Every Breath You Take“ von The Police aufbaut.

Jeder Ton, der einmal veröffentlicht wurde, ist Bestandteil eines riesigen kollektiven Datenspeichers geworden, ein normales Gedächtnis reicht dafür längst nicht mehr. In diesem Sounduniversum ist alles gleichzeitig verfügbar. Selbst die Toten wie Nat King Cole oder Dean Martin leben in posthum-virtuellen Versionen weiter, spielen und singen mit ihren Nachfahren. Das Universum der wieder und wieder recycelten Töne dehnt sich mit jedem Tag exponentiell aus.

Kein Grund, den Untergang des Abendlandes zu befürchten. Musik wird weiterhin an ihrer Haltung erkennbar bleiben, und somit auch die gelungene Coverversion. Welchen Zugriff erlaubt sie sich? Welche Zwischentöne legt sie frei? Wie weist sie über die Vorlage hinaus? Wir müssen nur ein paar Gigabyte mehr an Information verarbeiten als unsere Vorfahren. Die kreative Antwort auf diesen Data-Overload kommt mitten aus dem Internet. Auf Youtube, wo viele Amateure ihre Instrumentalkenntnisse vor der heimischen Videokamera aufzeichnen und ins Netz stellen, finden Cut-up-Künstler unendliche Ressourcen. Etwa Kutiman, der daraus komplett neue, extrem unterhaltsame Tracks schneidert. Oder Mash- up-DJs wie Earworm, der mit seinen subversiven Mixen die allgemeine Reizüberflutung ad absurdum führt, indem er bis zu 25 Stücke zu einem neuen verbrät. Es gibt nichts Reales mehr. Jeder kann mit diesem Rohmaterial verfahren, wie er will. Alles ist gleichermaßen verwendbar, hörbar, tanzbar. Alles nur eine Frage der coolen Collage. Nur eine menschliche Komponente braucht es weiterhin: jemanden, der sich das alles anhört.

Das Album „Easy Star’s Lonely Dub Star Band“ von den Easy All Stars ist bei Broken Silence erschienen.

Ralph Geisenhanslüke

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