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Kultur: Musik in Berlin: Stark wie der Tod: Hans Zenders "Hohes Lied der Liebe"

Die Liebe ist ein Geigerzähler, der unentwegt ausschlägt. Erst ein Mikrointervall, in dem die Töne sich aneinander reiben, in Schwingung geraten, verschmelzen.

Die Liebe ist ein Geigerzähler, der unentwegt ausschlägt. Erst ein Mikrointervall, in dem die Töne sich aneinander reiben, in Schwingung geraten, verschmelzen. Dann ein Sprung hoch hinauf, zum Spitzenton, zur Verzückung, zum Schrei. Eine präzise organisierte Komposition, vertrackt bis ins kleinste Detail: jedes Taktende markiert einen Taktwechsel, jedem Klang ist etwas Unerhörtes beigemischt. Und doch erklingt da eine Musik, die außer sich gerät, in Ekstase, in Trance. Hans Zenders "Shir Hashirim", seine Vertonung des vollständigen "Hohen Lieds", ist ein Vexierspiel der Affekte: ein Kantaten-ähnliches Mammutwerk für Gesangs- und Instrumentalsolisten, Orchester und Chor, Schlagwerk, Keyboard und Klangregie. Der Komponist nennt es ein "Rondo mit chaotischem Einschlag".

Braut und Bräutigam: Soloflöte (Roswitha Staege) und Posaune (Uwe Dierksen) werden mit Hilfe eines Ringmodulators verfremdet: Jeder Klang spaltet sich auf und entfaltet ein verzerrtes Vibrato. Wer kennt das nicht von der Liebe: das Gefühl, viele zu sein. Braut und Bräutigam: Sopran (gazellengleich wie im Bibeltext: Julie Moffat) und Tenor (fast zu lyrisch: Matthias Klink) sind Königskinder. Zender entfernt sie voneinander, musikalisch wie optisch. Im letzten der vier Teile steht er weit weg im Zuschauerraum und beschwört ihre Abwesenheit. Sie hingegen findet Erfüllung: Das "Lied der Lieder" - eine Hymne für die Frau. Der Chor kommentiert, beschwörend, fassungslos, spöttisch, hymnisch: "Stark wie der Tod ist die Liebe". Ein Satz, der sich ins Gedächtnis brennt in diesen Tagen. Der letzte Ton, ein hoher Violinenton, nach über zwei Stunden: ein Einklang, eine Utopie. Im dritten Teil ("Ich erkenne mich") verteilen sich Instrumentalisten und Chorsänger in der Philharmonie. Entfesselte Musik: eine Sinnestäuschung, ein Traumgesicht - wir hören nicht zu, sondern sitzen mittendrin. Auch das kennt man von der Liebe: dass einem der Kopf schwirrt und das Herz überläuft.

Das SWR Sinfonieorchester und das SWR Vokalensemble unter Leitung von Sylvain Cambreling meistern einen Kraftakt: Wer wollte ihnen übel nehmen, dass es auf den letzten Metern zu Konzentrationsschwächen kommt. Bedauerlich bleibt, dass kaum mehr Zuhörer erschienen sind als Aufführende. Aber ein Blick auf den Veranstaltungskalender, der an diesem Abend zahlreiche Konzerte und Theaterpremieren verzeichnet, macht deutlich, dass die Festwochen unter ihrer neuen Leitung in Zukunft auf weniger Masse setzen sollten. Selbst in einer Metropole wie Berlin ist das Interesse für solch anspruchsvolle Programme begrenzt. Auch eine kommentierende Einführung in das nach 1998 in Saarbrücken nun zum zweiten Mal komplett aufgeführte Werk hätte nicht geschadet. Wer mehr weiß, der hört mehr: Die Liebe ist schließlich kein Kinderspiel.

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