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Lavah Shani und das Rotterdams Philharmonisch Orkest in der Philharmonie.

© Fabian Schellhorn

Musikfest Berlin 2022: Stadt unter Starkstrom

Das Rotterdam Philharmonisch Orkest und Lahav Shani begeistern beim Musikfest Berlin mit Werken von Mahler, Willem Pijper und Ligeti.

Glückliches Holland: Das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester hat sich gerade ein Jahrhunderttalent geschnappt, Klaus Mäkelä, den frühreifen Finnen, Jahrgang 1996. Und beim zweiten Klassik-Spitzenensemble des Landes, dem Rotterdams Philharmonisch Orkest, ist seit 2018 der nicht minder talentierte Lahav Shani Chefdirigent, geboren 1989 in Tel Aviv.

Wenn Shani mit seinen Rotterdamern am Sonntag in der Philharmonie beim Musikfest Berlin gastiert, dann leitet er nicht die Aufführung von Gustav Mahlers 1. Sinfonie, nein, er ist die Musik. Seine Leistung geht weit über technisches Koordinieren hinaus: Er wird im Konzert zum Kraftzentrum, das ausstrahlt und empfängt – und es seinen Mitspieler:innen so ermöglicht, einen gemeinsamen Atem zu finden.

Atmosphärische Schwankungen sind körperlich spürbar

Lahav Shani braucht keinen Dirigentenstab, er agiert mit bloßen Händen, denn es geht ihm ja nicht darum, Befehle zu erteilen, sondern kollektiv nachzufühlen, was Mahlers Partitur erzählt. Grandios gelingt der Moment im Eröffnungssatz, wenn sich die behutsam aufgebaute Idylle eines Sommermorgens im Gebirge plötzlich verfinstert: Wie sich dunkle Wolken vor die Sonne schieben, das ist im Saal geradezu körperlich so spüren. Und ebenso organisch löst sich die verschattete Atmosphäre dann auch wieder auf, in erneutes akustisches Leuchten.

Ruppig geht Shani den zweiten Satz an, doch der Walzer-Mittelteil schwebt wunderbar schwerelos. Ein Kontrast, der trotz seiner Schärfe absolut logisch erscheint. Im Trauermarsch versteht es der Dirigent, vom ersten Takt an Klezmer-Assoziationen heraufzubeschwören, bevor er das Finale dann als Soundtrack zu einem Katastrophen-Film à la Roland Emmerich inszeniert.

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Riesenjubel für einen besonderen Abend

Packend-plakativ klingt das, aber nicht oberflächlich, weil das ganze Orchester mit rückhaltlosem Engagement dabei ist. Sie spielen wie die Teufel, reizen die Wow-Effekte aus, schwelgen in einer imaginären Liebesszene, rauschen auftrumpfend dem Happy End entgegen, kurz, entfalten eine maximale musikalische Sogwirkung.

Im Riesenjubel endet damit ein Abend, der durchaus einen intellektuellen Überbau hat. Sich nämlich der Frage widmet, was man jenseits akademischer Konventionen alles mit dem Instrumentarium eines traditionellen Orchesters anstellen kann. Mit Mahlers Naturlauten und Vogelstimmen in seinem sinfonischen Erstling von 1888 fing diese Freiheitsbewegung an. György Ligeti setzt sie 1961 in „Atmosphères“ radikal um, durch miteinander verzahnte Tonballungen, die sich über mehrere Oktaven erstrecken, bilden sich changierende Klangflächen.

Willem Pijper schrieb tolle Großstadtmusik

Die niederländischen Musiker und Musikerinnen spielen diesen Klassiker der Moderne mit größter Selbstverständlichkeit, genauso wie sie anschließend leidenschaftlich für die 1922 uraufgeführte 2. Sinfonie ihres Landmanns Willem Pijper werben: Gleichzeitig frech und pathetisch ist dessen Großstadtmusik, toller Krach mit Sexappeal in den schnellen Sätzen, kraftvoll vorwärtsdrängend, immer unter Starkstrom.

Dazwischen steht eine Nachtmusik. Nervöse Ruhe herrscht in den Straßenschluchten, aus einem offenen Fenster weht spanisch angehauchte Tanzmusik herüber – in dieser city that never sleeps. Könnte Berlin anno 2022 sein.

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