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Das Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Andris Nelsons.

© Marco Borggreve

Musikfest Berlin: Himmel und Erde erschüttern

Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra glänzen beim Musikfest mit Mahlers sechster Sinfonie in der Berliner Philharmonie.

Dieser Auftritt des Boston Symphony Orchestra mit Mahlers Sechster beim Musikfest gleicht einem Triumph, daran kann es keinen Zweifel geben. Wann je verharrt die Philharmonie so still, nachdem der letzte Klang verebbt ist. Andris Nelsons hält zu Beginn seiner zweiten Saison als Music Director einen nahezu magnetischen Kontakt zu seinen Musikern. In Boston verehrt man den jungen, stets zur restlosen Verausgabung bereiten Maestro und genießt es, ihn nicht an die Berliner Philharmoniker verloren zu haben. Die wählten in ihrem zweiten Konklave bekanntlich Kirill Petrenko zum neuen Chef – obwohl dieser zuvor die gemeinsamen Konzerte mit Mahlers Sechster geschmissen hatte. Doch der Fall der „Tragischen“, so der populäre Beiname der Symphonie, erwies sich nicht als fatales Omen.
Wie dirigiert man dieses gigantische Werk, das Himmel und Erde erschüttert, traditionelle Formen noch einmal meisterlich füllt und zugleich überschreitet und dabei sein ganzes klingendes Universum in einen einzigen großen Marsch zwingt? Andris Nelsons bietet seine gesamte Körperspannung auf, schlägt beinahe jedes Detail plastisch heraus, agiert in einer Art pantomimisch, dass man unweigerlich an die Karikaturen des Dirigenten Mahler denken muss. Diese emphatische Kunst des mimetischen Taktierens beherrscht zur Zeit niemand so umfassend und dabei so unschuldig wie Nelsons. Allein dafür muss man ihn lieben. Man glaubt genau das zu hören, was durch den Dirigenten hindurch Gestalt annimmt.

Doch der Orchestermarsch ist weitaus fester geschnürt als Nelsons fließende Hingabe glauben macht. Das eröffnende Allegro energico stapft beinahe ohne Nachhall voran, das Untergründige scheint dem voranstürmenden Gestus verschlossen. Nelson dirigiert aus einer sehr hoch liegenden Partitur, die er überhaupt nicht braucht, deren Pult aber eine Art Unterbrustkorsett bildet. Dem Triebhaften wird hier eine klare Absage erteilt. Das ist faszinierend konsequent von den brillanten Musikern aus Boston umgesetzt – und klingt ganz fern von dem böhmischen Musikantentum, aus dem Mahler einst aufgebrochen war. Die „Tragische“ wird aus der biografischen Lesart gelöst, von der die Mahler-Renaissance unter Bernstein so gezehrt hat. Und wir begegnen einer Musik, die weniger als Weltschmerzbalsam taugt, denn als Herausforderung an Kondition und Intellekt. Wenn sie mit einer derart leidenschaftlichen Akribie in Marsch gesetzt wird, wie von Nelsons und seinem Bostoner Orchester – wer wollte sich da noch widersetzen?

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