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Musikunterricht im Humboldt-Gymnasium in Berlin-Reinickendorf.

© Kitty Kleist-Heinrich

Musikschulen: Man müsste Klavier spielen können

Ein Instrument kann man nur mit viel Geduld erlernen - und mit einem aufmerksamen Lehrer. Darum müssen die Arbeitsbedingungen der Berliner Musikschullehrer endlich verbessert werden - und nicht verschlechtert, wie der Berliner Senat derzeit plant

Fangen wir mit Nele an. Nele ist 16 Jahre alt und geht in die zehnte Klasse. In diesem Augenblick steht sie mit ihrem Lehrer Peter Ludewig in einem Unterrichtsraum der Musikschule Pankow und spielt lange Töne auf der Klarinette. Ganz in Ruhe. Die beiden holen gemeinsam Luft und fangen gemeinsam an. „Kleines h“, sagt Ludewig in einer Pause zwischen zwei Tönen, und: „Gleich noch mal“. Nele weiß, welche Klappen sie wie greifen muss. Mit Ludewig zusammen spielt sie sich durch den Tonraum, nach oben, nach unten, in großen Sprüngen, in kleinen Schritten. Ludewig hört mit feinem Ohr zu. „Was ist dir aufgefallen an der Intonation?“, fragt er. Nele hält ein. „Beim Heruntergehen hast du mehr Spannung.“

Wozu der Aufwand? Für eine einzige Person, an einem einzigen Instrument? Ganz klipp und klar: Es geht nicht anders. Lesen und Schreiben kann man zu mehreren lernen, Tanzen und Jonglieren auch, selbst Bäckerhandwerk oder Herzchirurgie kennen die Unterweisung in Kleingruppen. Aber wie man ein Instrument spielt, das lässt sich wegen des komplexen Zusammenwirkens von Atem, Gehör, Feinmotorik und individuellem Instrument nur im Einzelunterricht erlernen.

Wissenschaftler sprechen vom Wechselspiel verschiedener Wissensformen: Um einer Geige einen schönen hohen Ton zu entlocken, braucht es eine rechte Hand mit ruhiger Bogenführung, eine präzise greifende Linke, ein geschultes Gehör, eine feine Motorik für das richtige Vibrato und eine angemessene Körperhaltung. Notenkenntnis wäre sinnvoll, ein Vorstellungsvermögen für Tonfarben und das Wissen darum, dass identische Tonhöhen auf der Geige verschieden erzeugt werden können.

Mit alldem allerdings hätte man immer noch keinen Blumentopf gewonnen, sondern erst einen einzigen Ton. Und um diesen Ton mit anderen zu einem Stück Musik zusammenzufügen, dafür sind viele weitere Wissensformen erforderlich. Vertrautheit mit dem musikalischen Vokabular zum Beispiel, ein guter Zugang zu sich selbst. Musizieren hilft, diese Vertrautheit zu erlangen und zur Persönlichkeit zu reifen, außerdem sorgt es wie von selbst für Disziplin und Beharrungsvermögen. Das Ganze kann aber leicht mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Und es bleibt unmöglich ohne einen Lehrer, der diesen Vorgang mit Argusaugen kontrolliert. Anders gesagt: Ohne die Meister-Schüler-Konstellation im Einzelunterricht kommt keiner zur ersten Sonatine, zur Kammermusik oder ins Laienorchester, schafft niemand es an eine Musikhochschule, geschweige denn auf ein Konzertpodium.

Peter Ludewig, Neles Klarinettenlehrer, hat es geschafft. Sein Werdegang ist typisch für den eines professionellen Musikers. Seit er neun ist, spielt er Klarinette, studiert hat er an der Hanns-Eisler-Hochschule, heute unterrichtet der diplomierte Instrumentalpädagoge an der Musikschule in Pankow und leitet das am Haus ansässige Klarinettenorchester. Neben seiner Unterrichtsarbeit nimmt Ludewig Engagements als Klarinettist oder Saxofonist an – denn vom Honorar der Musikschule allein könnte er seine Familie nicht ernähren.

Prekäre Arbeitsbedingungen für jemanden, der noch vor dem Studium jahrelang ausgebildet worden ist, der einen Hochschulabschluss erworben hat und in täglicher Arbeit an der Umsetzung dessen mitwirkt, was in Artikel 27 der Menschenrechte steht, dass nämlich jeder das Recht hat, „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen“ und „sich an den Künsten zu erfreuen“.

Musik ist eine anthropologische Konstante. In allen Kulturen wird gesungen und gespielt, und je kunstvoller dies getan wird, desto besser müssen die qualifiziert sein, die ihr Wissen an den Nachwuchs weitergeben. Das Problem ist die Kluft zwischen Soll und Ist. Musik als Menschenrecht? Die 12 kommunalen Musikschulen in Berlin sind mit Unterrichtsplätzen zu knapp ausgestattet. Chris Berghäuser, studierter Pianist und seit 2004 Leiter der Musikschule Pankow, berichtet, dass allein in Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg 4000 Bewerber auf einen Platz warten. Auch die anderen bezirklichen Musikschulen platzen aus allen Nähten – von 10 000 Wartenden spricht der Deutsche Musikrat mit Blick auf das gesamte Berliner Stadtgebiet.

Die Unterversorgung ist nicht das einzige Problem. Unerträglich ist auch die mangelnde Wertschätzung der Lehrer und Lehrerinnen, von denen 94 Prozent nur als freie Mitarbeiter beschäftigt werden. Für diese Lehrkräfte plant die Bildungsverwaltung ab August die Umstellung der monatlichen Pauschalhonorare auf Stundenhonorare. Man wolle scheinselbständige Verhältnisse vermeiden, heißt es. Rund 1800 Lehrerinnen und Lehrer haben die neuen Verträge bereits erhalten; wer nicht zustimmt, dem soll laut Ausführungsvorschrift des Senats gekündigt werden.

Für die Situation an den Musikschulen sind die Veränderungen katastrophal, nicht nur unter dem Aspekt der Existenzsicherung ihrer Unterrichtskräfte. Notgedrungen werden sich viele nach verlässlicheren Beschäftigungen umsehen müssen; allein durch Schulferien- oder Feiertagszeiten käme es für sie bereits zu Verdienstausfällen.

Mit alldem greift der Senat massiv in den Vorgang des Musiklernens selbst ein. Disziplin und Beständigkeit sind die Eckpfeiler jeder Ausbildung am Instrument. Eine kurzatmige Honorarkonstruktion wie die stundengenaue Abrechnung, die fast zwangsläufig zu kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen führt, kann ganze Lebensläufe durchkreuzen. Nele zum Beispiel hat seit fünf Jahren Unterricht beim selben Lehrer. Das ist keine ungewöhnliche Zeitspanne, auch nicht für die anderen 40 000 Schülerinnen und Schüler an den kommunalen Musikschulen. Selbst Spitzenstars im Konzertgeschäft binden sich jahrelang an einzelne Lehrerpersönlichkeiten.

Natürlich müssen nicht aus allen Berliner Kindern Klassikstars werden. Doch viele von ihnen sind außerordentlich motiviert. Rund 40 „ganz normale Musikschüler“ (Berghäuser) aus Pankow haben 2013 im Landeswettbewerb „Jugend musiziert“ erste Preise eingeheimst – unter dem Schutz langfristiger Betreuung. 20 von ihnen wurden zum Bundeswettbewerb weitergeleitet. Um sich dem Kerngeschäft der musikalischen Breitenbildung mit solchen Erfolgen widmen zu können, brauchen die Lehrkräfte würdige Arbeitsbedingungen.

Darum müssen nicht nur die bestehenden Planungen sofort gestoppt werden – auch grundsätzlich müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Eine Petition der Berliner Musikschullehrer, die Senatorin Sandra Scheeres (SPD) am 7. Juni vorgelegt werden soll, fordert die Anpassung der Honorare an die Tarifstrukturen der Angestellten des Landes Berlin, einen besseren Kündigungsschutz, eine angemessene Sicherung für Krankheitstage und die Einführung von Mutterschutz. Eigentlich Selbstverständlichkeiten.

Doch offenbar zählte Berlin bislang lieber auf die Opferbereitschaft der Lehrenden als sich zu der Verpflichtung zu bekennen, die kommunalen Musikschulen besser auszustatten. Unterschreiben kann man die Petition noch bis Dienstag unter www.openpetition.de/petition/online/diese-vertraege-fuer-die-nicht-festangestellten-musikschullehrer-berlins-wollen-wir-nicht

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