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Ansichten und Aussichten. Das Bild machte Ai Weiwei am fünften Jahrestag des Tian’anmen-Massakers von seiner Frau auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

© Ai Weiwei

Mutig und provokant: Das Wirken von Ai Weiwei und seinen Kunstaktionen

Viele von Ai Weiweis Aktionen haben nicht nur mit einem Konzept, sondern vor allem mit Überzeugung zu tun. Er mischt sich in öffentliche Angelegenheiten ein, enthüllt Amtsmissbrauch, Einschränkung der Rechte und Benachteiligung der Bevölkerung.

Ai Weiwei, der am Mittwoch nach zweieinhalb Monaten Haft auf Kaution freigelassen wurde, ist ein tatkräftiger Konzeptkünstler. Viele seiner Aktionen haben jedoch nicht nur mit einem Konzept, sondern vor allem mit Überzeugung zu tun. In seinen zehn Jahren als illegaler Ausländer in New York verbrachte er viel Zeit in Museen. Oft ging er vom East Village 40 oder 50 Straßen zum MoMA oder zum Metropolitan Museum. Ai Weiwei ist einer der wenigen, die Andy Warhol wirklich verstanden haben. Er ist jedoch mutiger. Warhol hat mit seinem Talent die Kunst auf den Kopf gestellt. Ai Weiwei schafft es, die politische Macht aufzumischen.

1993 kehrte Ai Weiwei nach Peking zurück. Seine Kunst bekam allmählich einen politischen Anstrich. Am 4. Juni 1994, dem fünften Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens, war der Platz streng bewacht. Ai Weiwei bewegte sich unauffällig zwischen den uniformierten Polizisten und Beamten in Zivil, und es gelang ihm, ein Foto zu machen, das seine damalige Freundin und jetzige Ehefrau Lu Qing an einem Absperrgitter zeigt. Zwischen ihrem Kopf und dem abgewandten Kopf einer anderen Frau ist im Hintergrund das große Mao-Portrait am Südtor der Verbotenen Stadt zu sehen. Vor dieser Kulisse zog sie schnell ihren Rock in die Höhe, so dass ihre Unterwäsche vor Mao und seinen patrouillierenden Bewachern zu sehen war.

Dieses Bild war in den 90er Jahren in den inoffiziellen Zeitschriften für chinesische Gegenwartskunst weit verbreitet. Dem Fotografen und den Magazinen passierte nichts – es gab ja keinen konkreten Verstoß gegen bestehende Vorschriften. Den Betrachtern blieb es überlassen, eigene Schlüsse zu ziehen. Nach dem Jahr 2000, als Digitalkameras mit Selbstauslösern auf den Markt kamen, wurde Ai Weiwei noch provokanter. 2008 fotografierte er seinen üppigen nackten Körper und wollte so die in der Gesellschaft durch Gewohnheit und Tradition entstandene Vorstellung von Ästhetik herausfordern. Der dicke Bauch mit der brennenden Zigarette im Nabel ist sicherlich abstoßend. Diese Bilder zeigen einen schamlosen älteren Mann, der es seit langem gewöhnt ist, sich zu entblößen.

Die späteren Nacktbilder, auf denen er sein Glied hinter einem Gegenstand verbirgt, nannte er „Das Grasschlammpferd verdeckt das Zentrum“. In der chinesischen Umgangssprache klingt das sehr ähnlich wie eine obszöne Beschimpfung der Parteizentrale. Denn drei Wörter für „Grasschlammpferd“ klingen im Chinesischen ähnlich wie „Fuck your mother“. Im offiziellen Sprachgebrauch Chinas ist das „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei“ das häufigste der „geheiligten Worte“. Ai Weiwei verkehrte die sakrosankte Bezeichnung geradezu obszön ins Gegenteil. Die Bilder fanden großen Anklang, Ai Weiwei setzte die Aktionskunstserie mit Gruppenbildern fort.

Das Bild entstand in Peking am Tag nach der Freilasssung des Künstlers.
Das Bild entstand in Peking am Tag nach der Freilasssung des Künstlers.

© AFP

Nachdem der 53-Jährige am 3. April in Peking festgenommen wurde, suchten Internetnutzer – und auch die Internetpolizei – fieberhaft nach den Nacktkunstprojekten. Es fanden sich unter anderem Bilder aus dem Jahr 2010, bei denen Ai im Kreis von vier nackten Frauen zu sehen ist. Sie gaben der Serie den Namen „Ein Tiger mit acht Brüsten“.

Auf einem dieser Bilder sitzt Ai Weiwei gelassen in der Mitte der Frauen. Er verdeckt sein Geschlecht und stützt sich auf den linken Oberschenkel. Wird diese Sitzhaltung umgangssprachlich beschrieben, dann klingt das ähnlich wie „Zentralkomitee der Partei“. Das Mädchen am linken Rand gibt sich durch Brille und langes Haar den Anschein einer Intellektuellen. Sie zeigt sich hochnäsig, neigt aber der Mitte zu: eine Marionette an den Fäden der Partei. Eine weitere Frau repräsentiert die Bourgeoisie. Sie dreht ihren Körper leicht nach rechts und verkörpert so die „Rechte, die Konservative“ – deutlich abgesetzt von der Figur im Zentrum. Das freundliche Mädchen im Hintergrund symbolisiert die Medien, die an der Seite der Macht geduldet werden. Die vierte Gestalt ist fast vollkommen verdeckt: Das sind die Arbeitsmigranten, die keine gesellschaftliche Bedeutung haben.

Ai Weiweis Nacktkunst zeigt Anklänge an den Zen-Buddhismus. Auch dort finden sich Darstellungen von Mönchen mit (halb) entblößten Körpern, zwanglos, doch mit erkennbarer Choreografie. Auch zu den ritterlichen Werten aus der Han-Dynastie vor 2000 Jahren gibt es Bezüge. Es gibt einen alten Spruch, der sich teils bereits bei dem Philosophen Mengzi findet, einem Nachfolger von Konfuzius. Er besagt, dass ein Prinzip, das Tao, bestehen bleibt, auch wenn ich gegen zehn Millionen Menschen angehen muss. Gerechtigkeit ist jede Anstrengung wert, auch wenn man tausende Goldbatzen verliert. Ai Weiweis Beharrlichkeit und Ausdauer sind von diesem Geist getragen, auch seine Methoden, die er bei Angelegenheiten von allgemeinem Interesse anwendet.

Seine Freunde reden ihn meist mit dem Vornamen Weiwei an, Internetfans nennen ihn den Heiligen Ai (Ai, anders geschrieben, bedeutet Liebe, „heiliger Ai“ klingt auf Chinesisch wie „Eros“). Um der Internetpolizei auszuweichen, verwendet Ai Weiwei viele Pseudonyme, zum Beispiel Ai Momo, Ai Weilai, Ai Weimo, Ai Mowei, Weiwei Ai, Momo Ai, Weimo Ai, Ai Weizhu, Ai Mozhu, Ai Weimu, Ai Mumu und andere. Ai Weiwei nannte diese Liste schmunzelnd einen Sehtest für die Internetpolizisten und empfahl ihnen, ihre Augen lieber zu schonen.

Mit seinen Nacktbildern entblößt Ai Weiwei nicht nur sich selbst, sondern auch die chinesische Zentralregierung und ihre lokalen Vertretungen. Er mischt sich in öffentliche Angelegenheiten ein, enthüllt Amtsmissbrauch und die Einschränkung der Rechte. Er hasst das Bündnis aus Beamten und Geschäftsleuten, er trauert um diejenigen, die von der Gesellschaft benachteiligt worden sind. All das versucht er, in seiner Aktionskunst anklingen zu lassen.

2008 drehte er einen Film über den 28-jährigen Yang Jia, der sich wegen eines Diebstahlverdachts ungerecht behandelt fühlte und daraufhin in eine Polizeistation eindrang, um die Polizisten mit einem Messer anzugreifen. Sechs Beamte starben an ihren Verletzungen, Yang Jia wurde zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde in der Bevölkerung zwiespältig aufgenommen. Dieses Ereignis thematisierte der Künstler in seinem ersten Film.

In einem weiteren Film ging es um die Tragödie der Erdbebenopfer von 2008, um viele tausend Kinder, die in schlampig errichteten Schulgebäuden umkamen, als diese schneller als andere Häuser einstürzten. Ai Weiwei und sein Atelier unterstützten den Aktivisten Tan Zuoren, der sich zum Sprachrohr der betroffenen Eltern machte und dafür ins Gefängnis kam. Als Ai Weiwei nach Chengdu reiste, um bei einem Prozess gegen Tan als Entlastungszeuge auszusagen, wurde er von Polizisten lebensgefährlich am Kopf verletzt. In weiteren Dokumentarfilmen greift er Fälle von Unrecht gegen einfache Leute auf.

Ai Weiwei ist kein gewöhnlicher Regimegegner oder Dissident. Die sehen immer so todernst und besorgt aus. Er jedoch trägt immer ein Grinsen im Gesicht – sein Markenzeichen. Mit seinem Lächeln und seinem Humor trotzt er der staatlichen und polizeilichen Gewalt. Einerseits unternimmt er mit persönlichem Risiko bürgerrechtliche Aktionen, andererseits kann er sich in künstlerischen Konzepten und Ideen verlieren. Ai Weiwei hat sich keine Illusionen über seine Zukunft gemacht und vor seiner Verschleppung erklärt: Entweder werde er im Gefängnis landen oder im Exil, es könne auch sein, dass er gewaltsam ums Leben komme. Einmal äußerte er vor Journalisten: „Ich bestehe auch aus Fleisch und Blut und habe natürlich Angst, sogar sehr viel Angst. Wenn ich aber aufhöre und nichts mehr tue, dann wird diese Angst noch größer.“

Bei Ling ist der Biograf des inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Die Biografie „Der Freiheit geopfert“ ist im Riva Verlag erschienen (370 S., 19,95 €). Bei Lings Text wurde von Volker Vogel und Martin Winter aus dem Chinesischen übersetzt.

Bei Ling

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