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Kultur: Mylia und ihre Männer

Gonçalo M. Tavares’ Nachtstück „Die Versehrten“.

Schmerz“ ist das zentrale Wort dieses Romans, der im Original „Jerusalem“ heißt. Morgens um vier steht Mylia, ehemalige Insassin einer psychiatrischen Klinik, vor einer verschlossenen Kirche. Ist es eine vage religiöse Sehnsucht oder eine nahende Ohnmacht, die sie am Portal rütteln lässt? Und rühren ihre ständigen Bauchschmerzen von einer Zwangssterilisation her? Zur selben Zeit macht sich der kriegsversehrte Hinnerk Obst auf den Weg, ebenso wie den Arzt und Holocaust-Forscher Theodor Busbeck, Mylias Ex-Mann, der Wunsch nach schneller sexueller Erfüllung umtreibt. Und da wäre schließlich noch Ernst Spengler, der seiner früheren Geliebten Mylia zur Hilfe eilt. Er ist der Vater ihres behinderten Sohnes Kaas.

Vier einsame, verzweifelte Menschen führt Gonçalo M. Tavares in seiner existenzialistischen Nocturne zusammen, um ihre diagonal verlaufenden Lebenswege zu kreuzen; am Ende steht ein Mord. Tavares geht es um einen möglichst düsteren Widerhall aller Diktaturen, die Europa im 20. Jahrhundert erlitten hat. So ist auch der Kontext des Buches, das jäh von Komik zu Grauen und wieder zurück schaltet, überzeitlich und überörtlich.

Nur Mitteleuropa lässt sich lokalisieren, wovon die deutsch-niederländischen Namen zeugen, allen voran Ernst Spengler, eine Art Großneffe von Oswald nach dem längst erfolgten Untergang des Abendlandes. Doch auf Interpretationen will sich Gonçalo M. Tavares keinesfalls festlegen. 1970 in der damaligen portugiesischen Kolonie Angola geboren, unterrichtet er an der Universität von Lissabon Erkenntnistheorie und gilt als einer der bedeutendsten jüngeren Schriftsteller seines Landes. José Saramago prophezeite ihm bereits den Nobelpreis.

Irgendwo zwischen Franz Kafka, Witold Gombrowicz und den Marx Brothers angesiedelt, wagt Tavares in seiner Romantetralogie „O Reino“ (Das Reich) ein literarisches Fazit des 20. Jahrhunderts und seiner exorbitanten Gewalttaten, die sich in den psychischen Blessuren der Nachkommen fortsetzen. „Die Versehrten“, Band drei von „O Reino“, lässt sich aber auch als atheistische Heilsgeschichte verstehen. Endlich ist Tavares, der dezidierte Mitteleuropäer vom westlichen Rand des Kontinents, auch auf Deutsch zu lesen. Katrin Hillgruber

Gonçalo

M. Tavares:

Die Versehrten.

Roman. Aus dem

Portugiesischen von Marianne Gareis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 240 Seiten, 19,99 €.

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