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Kultur: Mythisches Netzhautflackern

Werkstatt, Wagenburg, Wüstenlager: Schlingensief überarbeitet in Bayreuth seinen „Parsifal“

Demut, sagt Christoph Schlingensief, habe er seit der „Parsifal“-Premiere im letzten Jahr gelernt: Demut vor der Kunst und den Künstlern. Im Übrigen, so verrät er dem „Nordbayerischen Kurier“, sei diesmal alles ganz prima gelaufen.

2004 hatte der 44-Jährige noch seine liebe Mühe mit Wolfgang Wagner und den Traditionalisten, und die Sänger hatten ihre liebe Mühe mit ihm. Jetzt sind alle ganz friedlich. Man hat nachgearbeitet und sich überhaupt bestens verstanden. Auf der Festspiel-Website wird unmissverständlich klargestellt, dass der Regisseur kein Hausverbot habe und niemals gehabt habe. Selbst der Schlagabtausch zwischen Schlingensiefianern und Wagnerianern am Ende der Wiederaufnahme-Premiere hat etwas von einem Ritual. Gut gelaunt brüllt man Buh oder Bravo – und wirft nicht mit verfaultem Gemüse nach dem freundlichen Wuschelkopf, sondern mit niedlichen Stoffhasen.

Das Nacharbeiten hat geholfen. Die im Vorjahr als peinlich empfundene Verführungsszene zwischen Kundry und Parsifal im zweiten Akt ist nun klar konturiert. Da sind zwei, die wollen gar nicht zusammenkommen, deshalb kreisen sie so linkisch umeinander herum. Kundry ist genervt, Parsifal verängstigt. Weltenerlösung mag ja noch angehen, aber bitte, no sex please. Der Kuss ist eine Sünde im Beichtstuhl und die bürgerliche Ehe eine Psychokiste rund um Freuds Couch. Jeder singt hier für sich allein.

Vielleicht liegt darin die seltsame Melancholie von Schlingensiefs Wagner-Lesart begründet. Da soll es um Mitleid gehen, das einzig dem Tod die Stirn bieten kann, aber alle – ob Amfortas als europäischer Patient, Kundry als Büßerin, Gurnemanz als elder statesman oder Parsifal als Messiasdarsteller – sind Gefangene ihrer Mission. Mehr Funktionäre als Menschen. Deshalb sind Schlingensiefs Bühnenarbeiten auch weniger Schauspiel als Installation. Und deshalb erinnert dieser Abenteuerspielplatz auf der sich unaufhörlich drehenden Bühne samt Zaun, Stacheldraht, Wachtürmen und Bretterverschlägen an ein Lager. Guantanamo als Märchenpark und Geisterbahn des 21. Jahrhunderts. Ob Theaterfundus oder Friedhof der Artefakte, Wagenburg, Wüstenlager oder Geschichte und Religion als Beutekunstmüll: Auf dem Planeten Schlingensief – und das hat er mit Wagner gemein – sind mitten im sich türmenden Kulturverhau auch die Menschen kaum mehr als Material.

Aber sie leiden unsäglich darunter: Dass sie vergänglich sind, dass sie kaputtgehen wie Vieh und der Tod sich einen Dreck um ihre Einmaligkeit schert. Sie haben hier keinen Ort und keine Identität, deshalb vagabundieren sie auf der Bühne herum und haben in diesem Jahr noch mehr Doppelgänger als 2004. Grandioses Finale: Zu Wagners ersterbenden Klängen verwest der Beuys/Schlingensief-Hase auf der Videoleinwand, aber im letzten Moment gibt das Bild ein anderes frei, einen scharfen Schattenriss mit gleißendem Lichtblick am Ende des Tunnels. Klar, ein Klischeebild für Hoffnung und Erlösung, so billig ist die Zukunft nicht zu haben. Aber nur mit dem verwesenden Hasen halten wir es ums Verrecken nicht aus. Deshalb gibt es Kunst und Religion und Wagner und Schlingensiefs Mythenzertrümmerung, die einen deshalb so umtreibt, weil er die Mythen ernst nimmt wie lange keiner mehr. Darin ist Schlingensief auf kongeniale Weise Dilettant: Wie Wagner traut er sich an die großen, letzten Fragen, übernimmt sich auch mal, spielt wie ein Kind mit dem Globus. Nein, es gibt keine Erlösung, Parsifal bleibt ein Kitschbilderbuch-Jesus. Aber wir können es nicht lassen, in diesem Bilderbuch zu blättern. Darin besteht unser Menschsein.

Schlingensief zeigt beides. Zum einen die kollektive Unübersichtlichkeit der mit Bildern und Zeichen vernetzten Welt und das Chaos der Globalisierung: die Gralsritter, eine Prozession der Weltreligionen. Aber er zeigt auch das individuelle Unbewusste. All die unverarbeiteten Schock- und Sehnsuchtsbilder im Kopf verdichtet Schlingensief zum Opern- Mantra. Im zweiten Jahr seines „Parsifal“ ärgert man sich deshalb weniger über das permanente Halbdunkel auf der Bühne, entspricht diese Laterna magica mit ihren kreiselnden, sich permanent überblendenden Schemen und phosphoreszierenden (Alp-)Traumgesichten doch dem Flackern auf der eigenen Netzhaut. Seelenwanderung als Stummfilmkino und Videoprojektion – bloß unsere Leichen singen noch. Das Amorphe und das Anthropomorphe, ekliges Kleinstgetier und edelste Emotion: In Wagners Bühnenweih-Schmelzklang findet all das genauso zusammen wie in Schlingensiefs unerschrockener Gesamtkunstwerkelei.

Verkehrte Welt. Es gab eine Zeit, da pilgerte man auf den Bayreuther Hügel, um die Weltmeister des Gesangs zu bewundern. Die wahren Wagner-Werkstätten standen meist anderswo. Jetzt ist es mit dem Gesang auf dem Hügel nicht so weit her: Alfons Eberz quält seine Töne hervor, seltsam unkontrolliert sein metallisches Vibrato. Michelle de Young (Kundry), Robert Holl (Gurnemanz), Alexander Marco-Buhrmester (Amfortas) und John Wegner (Klingsor) liefern ihre Partien erneut solide ab, und Pierre Boulez bleibt im Orchestergraben diszipliniert und asketisch. Er liebt die geschlossene, zarte Knospe mehr als die volle Blüte. Das innige Sehnen der Streicher im Vorspiel zum dritten Akt bleibt eine in Bernstein eingeschlossene Kostbarkeit.

Aber das macht nichts. Gesamtkunstwerk bedeutet ja, dass da etwas besser ist als die Summe seiner Teile. Alfons Eberz trägt das Ungestüme, Unzulängliche seines Parsifal-Neulings eben auch in der Stimme. Und Boulez’ dekonstruktivistisches, fast hurtiges Dirigat entspricht dem Werkstattcharakter dieser Wagner- Installation. Bloß keine falsche Ehrfurcht.

Schlingensiefs Karussell der Ängste kreiselt übrigens längst auch woanders. Nicht nur in Island, wo die in den „Parsifal“-Schluss nun integrierte Drehbühnen-Installation des „Animatographen“ samt nordischen Gottheiten im Mai Premiere hatte. Nicht nur virtuell in „Kunst und Gemüse“ am Rosa-Luxemburg- Platz, wo der Regisseur seine Bayreuth- Erfahrung reflektiert und sich zugleich ganz ernsthaft mit Krankheit und Mitleid befasst. Sondern demnächst auch beim Weltjugendtag in Köln: Schlingensiefs „Church of Fear“ bezieht samt verwesendem Wagner-Hasen auf dem Dach des Museums Ludwig Quartier. Und „Odins Parsipal“, Schlingensiefs Version der unendlichen Geschichte vom Kampf der Götter, schlägt samt Animatograph am 19. August auf dem Flugplatz Neuhardenberg auf. Das Gesamtkunstwerk, ein Wanderzirkus.

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