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Wieder am Kiosk: „Charlie Hebdo“.

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Nach „Charlie Hebdo“ und Jafar Panahi: Kunstfreiheit – ganz oder gar nicht!

Wie weit kann, darf, muss Kunst gehen? Die Frage ist nach den Anschlägen von Paris und dem Goldenen Bären für den iranischen Regisseur Jafar Panahi in den Fokus gerückt. Ein Gastbeitrag

Es ist eine Schlüsselszene in „Taxi“, dem Film des mit Berufsverbot belegten iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Panahis Nichte Hana Saedi liest ihm die Regeln für einen „zeigbaren“ Film im Iran vor, die ihre Lehrerin der Klasse für ein Schulprojekt mit auf den Weg gegeben hat. Zu diesen Regeln gehören skurrile Spitzfindigkeiten – die Guten dürfen niemals Krawatte tragen – ebenso wie selbstwidersprüchlich anmutende Vorschriften. Filme sollen die Realität zeigen, aber nicht, wenn sie hässlich ist, denn dann ist es „Schwarzmalerei“. Der „zeigbare“ Film ist ein Werkzeug in den Händen der Herrschenden zur Instandhaltung eines politisch gewünschten Menschen- und Gesellschaftsbildes.

Wie weit kann, darf, muss Kunst gehen? Die Frage ist nach den Anschlägen von Paris in den Fokus gerückt. Panahis Film legt eine andere Perspektive nahe: Statt zu fragen, wo die Freiheit der Kunst endet, sollten wir vielleicht darüber nachdenken, wo die Diktatur des Zeigbaren beginnt. Sie beginnt dort, wo die künstlerische Freiheit mit einem „Aber“ versehen wird, hinter dem politische Machthaber, gesellschaftliche Gruppen oder auch Einzelne ihr Terrain für sakrosankt erklären. Und wo jene, die diese Grenzen nicht respektieren, Repressalien befürchten müssen. Deshalb treffen die islamistischen Anschläge Europas Demokratien ins Mark: weil die Angst um Leib und Leben, die sie verbreiten, eine Diktatur des Zeigbaren und Sagbaren in den Köpfen verankert, die den Zaun der (Selbst-)Zensur immer enger zieht.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

© picture alliance / dpa

Die Freiheit der Kunst gibt es nur ganz oder gar nicht. Dabei darf Kunst gesellschaftliche Grundregeln wie Persönlichkeitsrechte nicht verletzen, und selbstverständlich muss sie Widerspruch und Kritik ertragen. Doch eine Kunst, die sich auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten festlegen ließe, die den Absolutheitsanspruch religiöser Wahrheiten respektierte und das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente, eine derart begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich ihrer Möglichkeiten und ihres Wertes berauben.

Vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik

Deutschland, das sich Demokratie und Freiheit in einem von der NS-Barbarei auch geistig verwüsteten Land mühsam wieder erarbeiten musste, hat die Kunstfreiheit aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Die Freiheit der Kunst – so die Lehre, die wir aus zwei Diktaturen gezogen haben – ist wie die Freiheit der Meinung konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Mit ihren Fragen, Zweifeln, Provokationen beleben sie den Diskurs und sind so imstande, die Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Sie verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Fantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit der Kunst zu schützen, ist deshalb vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik.

Bis vor Kurzem war kaum vorstellbar, wie brutal die Gefährdung der Kunstfreiheit selbst dort sein kann, wo wir uns ihrer sicher glaubten – mitten in Europa. Die Liebe zur Freiheit, auch der Kunst, die Entschlossenheit, sie leidenschaftlich zu verteidigen, hat Menschen auf der ganzen Welt im Echo eines millionenfachen „Je suis Charlie!“ nach den Pariser Anschlägen eng zusammenrücken lassen.

Deshalb lohnt es sich, die Spannungen auszuhalten zwischen Meinungsfreiheit und Verunglimpfung, Pressefreiheit und Verleumdung, zwischen der Freiheit der Kunst und verletzten (religiösen) Gefühlen. Der Druck von außen hat uns den fundamentalen Wert der Freiheitsrechte für die Demokratie einmal mehr bewusst gemacht. Jean Paul befand schon vor 200 Jahren: „Eine Demokratie ohne ein paar Widerspruchskünstler ist undenkbar.“

Die Autorin ist Kulturstaatsministerin der Bundesrepublik Deutschland.

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