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Wutbürger. Demonstranten fordern am 29. März den Rücktritt der tunesischen Frauenministerin Sihem Badi und werfen Schuhe gegen ihren Amtssitz.

© AFP

Nach dem Arabischen Frühling: Die Revolution hat gerade erst begonnen

Wo bleibt die Würde des Menschen, nach dem arabischen Frühling? Unsere Autorin, die Ethnologin Heidrun Friese, ist zum Weltsozialforum nach Tunis gereist, das dieses Jahr unter dem Motto "Würde" stand. Ein Tagebuch der Begegnungen und des Wiedersehens.

Unsere Autorin, Ethnologin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, reiste letzte Woche nach Tunis zum Weltsozialforum das unter dem Motto „Würde“ stand und auf dem Aktivisten aus der ganzen Welt über Alternativen zur Globalisierung nachgedacht haben. Was bedeutet Würde in einem Land, von dem der Arabische Frühling ausging und in dem – nach der Verjagung des Diktators und den ersten freien Wahlen – die islamische Ennahda inzwischen eine der führenden Parteien im Lande ist? Vor zwei Monaten wurde der Oppositionspolitikers Chokri Belaïd, der die Verflechtungen zwischen der Ennahda, und Radikal-Islamisten angeprangert hatte, vor seiner Haustür erschossen. Es gab Massenproteste und den ersten Generalstreik gegen die Regierung, die Würde des Menschen ist erneut gefährdet. Heidrun Friese hat sich vor Ort auf die Suche begeben.

Mittwoch, 27. März

Der von Sicherheitskräften gut geschützte Universitätscampus El Manar gleicht einem Jahrmarkt. Unzählige Diskussionsforen finden hier statt, an den Informationsständen werden Kontakte geknüpft und Adressen getauscht, Facebook und Blogs aktualisiert, man macht Erinnerungsfotos, kauft Andenken, es wird gelacht und getanzt. Über dem Campus dröhnen die Bässe arabischer Musik, gegen die selbst ein Techno-Rave wie Kammermusik wirkt. In das akustische Inferno mischt sich das Durcheinander der Sprachen: arabische Dialekte, Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Deutsch, Wolof. Grauhaarige Veteranen mit Fjällräven-Rucksäcken, junge Tunesier im Che-Guevara-Outfit, die vielen jungen Freiwilligen, die das Treffen organisiert haben, tauschen sich mit den Gästen aus.

Moncef kenne ich aus Sousse, einer Küstenstadt weiter im Süden. Wegen seiner Freunde und der Politik ist er nach Tunis gezogen. Er studiert Informatik, engagiert sich in der Gewerkschaft der Studierenden, wird in einem Jahr seinen Abschluss machen – und dann mit Sicherheit arbeitslos sein. Einer seiner besten Freunde wollte daher nach Europa. Auf einem kleinen Boot hat er sein Schicksal herausgefordert, hat die gefährliche Überfahrt nach Lampedusa gewagt und ist im Mittelmeer ertrunken. Moncef möchte nicht nach Europa, er möchte sich nun in Tunesien für die Verbesserung der Situation einsetzen. „Würde“, sagt er, „das ist für mich Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Arbeit, Demokratie, Freiheit.“

Während die Aktivisten über drängende Themen wie die Lage der Frauen, die Klimaveränderung, Migration und Menschenrechte diskutieren, läuft zwischen den Gebäuden eine der Putzfrauen der Universität hin und her. Im weißen Kittel, mit derben Arbeitshandschuhen, grauem Müllsack und Besen sammelt sie den Abfall der kritischen Masse ein. Den ganzen Tag bückt sie sich nach Getränkedosen. Sie hat ihr Revier, das sie tagein, tagaus sauber hält. „Was sagen Sie zu dem Durcheinander“, frage ich sie, schließlich sollen 30 000 Menschen hier versammelt sein. Sie zuckt mit den Schultern. Die Dinge kommen, wie sie kommen, was soll man da machen?

Nach der fünften Demonstration des Tages ermüdet die Solidarität selbst mit denen, die im Lager Choucha an der Grenze festsitzen: Zehntausende, die nach den Ereignissen in Libyen aufgenommen wurden und nun nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. Ich beschließe einen Ortswechsel und fahre mit dem Bus ins Zentrum. Zehn Fahrkarten kosten 4 Dinar (circa 2 Euro); die Stadt hat die Linie eigens eingerichtet. Die Avenue Bourguiba, Aushängeschild von Tunis, hat sich nicht verändert. Am Nationaltheater, vor dem sich vor zwei Wochen erneut ein fliegender Händler verbrannt hat, sind die Spuren der Verzweiflung getilgt. „Er war betrunken," sagen die Leute, "er war nicht klar im Kopf.“ Unter den Arkaden vor dem Magasin Général sitzt immer noch der kranke Bettler, wie vor fünf Jahren. Vor dem Supermarkt Monoprix steht jetzt auch eine Frau, die in Colaflaschen gefülltes Leitungswasser verkauft. Würde: Die Straße ist von Stacheldraht gesäumt, an dem der Abfall sich festhakt.

Donnerstag, 28. März

Am Nachmittag treffe ich Mustafa, Gewerkschaftler und Anhänger der Volksfront, dem Zusammenschluss mehrerer linker Parteien. Er hat zwei Kinder. Der Sohn beendet gerade sein Informatikstudium, die Tochter studiert Architektur in Frankreich. „Die Situation ist nicht einfach“, merkt er an, „die Inflation ist seit 2011 von 3,3 auf 6 Prozent gestiegen. Zugleich ist das Heer der Arbeitslosen von 500 000 auf über 770 000 gewachsen, die Einkommen und die Kaufkraft sinken. In dieser Situation kaufen die Salafisten und Wahabiten, die von Katar und Saudi-Arabien mit Millionen unterstützt werden, die Armen. Sie unterziehen sie einer regelrechten Gehirnwäsche, das ist das Schlimme.“ Man sollte härter gegen sie vorgehen, fordert er. „Unter Diktator Ben Ali gab es nur eine korrupte Familie, heute sind es viele“, meint er ironisch. „Die Reichen sind zu Ennahdha abgewandert." Wie in Italien, erwidere ich, „Berlusconi und die Mafia!“ Die Welt ist ein Dorf! Wir lachen.

Der Ruhm des Rappers El Général und die Powermoves der Hip-Hopper

 Ein Hip-Hopper am Abschlusstag des Weltsozialforums in Tunis, am 30. März 2013, dem "Earth Day". Vor allem die Solidarität mit Palästina stand an diesem Tag auf dem Programm. Das Weltsozialforum fragt nach Alternativen zur Globalisierung, es wurde erstmals 2001 in Brasilien ausgerichtet.
Ein Hip-Hopper am Abschlusstag des Weltsozialforums in Tunis, am 30. März 2013, dem "Earth Day". Vor allem die Solidarität mit Palästina stand an diesem Tag auf dem Programm. Das Weltsozialforum fragt nach Alternativen zur Globalisierung, es wurde erstmals 2001 in Brasilien ausgerichtet.

© dpa

Freitag, 29. März

Während auf dem Campus die west-östliche Frauenbewegung diskutiert, hat sich vor dem Ministerium für Frauen- und Familienangelegenheiten eine empörte Menge versammelt und verlangt den Rücktritt von Ministerin Sihem Badi. Ein dreijähriges Mädchen ist in einem Kindergarten vergewaltigt worden, die tunesische Öffentlichkeit ist aufgewühlt, beklagt fehlende Sicherheit, die langsame Justiz, fürchtet Straffreiheit für die Täter. „In vier Tagen sieben Vergewaltigungen, die Ministerin unternimmt nichts, sie muss zurücktreten!“ Gefordert wird die Überprüfung aller seit der Revolution entstandenen neuen Einrichtungen, auch die strengere Überwachung der wahabitischen Kindergärten, die ohne Genehmigung arbeiten. Die Demonstranten werfen Schuhe gegen das Ministerium. Die Erinnerung ist noch lebendig: Die Ministerin hatte bei der Versteigerung der Luxusgüter von Ben Ali stolz mit einem Paar Schuhe seiner Gattin Leila posiert.

Am Abend bin ich mit Said verabredet, der in der Jugendarbeit tätig ist. Über Stadtautobahnen und Ausfallstraßen quält sich der Bus durch das ausgedehnte Viertel El Menzah, in dem die Mittelschicht wohnt und für tägliches Verkehrschaos sorgt. Villen, Ein- und Mehrfamilienhäuser, Residences, Einkaufszentren, etwa 40 000 Menschen leben hier. Hier befindet sich auch das Gymnasium Pères Blancs, das für Aufsehen sorgte, als Schüler sich zum Harlem Shake einfanden, einem über Youtube weltweit verbreiteten wilden Tanz, der die Religiösen empörte und den Erziehungsminister auf den Plan rief. Nun hat Said mit Unterstützung des Institut Français ein Treffen von Jugendclubs aus dem ganzen Land organisiert.

Musik spielte eine wichtige Rolle in der tunesischen Revolution. Der Rapper El Général, „die Stimme Tunesiens“, wurde wegen seines Songs gegen Ben Ali verhaftet und schaffte es 2011 auf die „Time“-Liste der „100 einflussreichsten Menschen“, neben Angela Merkel und Barack Obama. Heute Abend, im Jugendzentrum, werden der Rapper Med Big M und Hip-Hopper von „Black Snake“ frenetisch angefeuert, wenn sie ihre Powermoves vorführen, atemberaubende Rotationen um die eigene Körperachse. Würde, das ist auch die Freiheit des Ausdrucks, der Rhythmus und die Sprache des Körpers. „Einige von uns sind im Gefängnis, es hat sich nicht viel geändert,“ sagt Med Big M. Er träumt von einer eigenen CD, „aber wie sollen wir das aus eigener Tasche bezahlen?“

Samstag, 30. März

Die schönste Buchhandlung in Tunis, El Diwan, liegt versteckt in den engen Gassen der Altstadt. „Seit den Neunzigerjahren wird nicht mehr gelesen, alles Internet!“, klagt der Inhaber. „Jetzt fehlen auch noch die Touristen.“ Viele Läden haben zugemacht, die Mieten sind gestiegen. Zwar sind während des Forums viele Hotels ausgebucht, aber die Lage, so der Händler, „ist zu unruhig, das schreckt ab“. In seinem Viertel leben viele Anhänger des alten Regimes. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, meint der Buchhändler nebenan, sind doch normal nach einer Revolution! „Die französische Revolution fand auch nicht an einem Tag statt. Zwar sind die Preise gestiegen, Mieten, Fleisch, Gemüse, Benzin, Autoversicherungen, alles teurer! Aber im Vergleich zu Ägypten oder Libyen... Heute gibt es Freiheit und Würde“, ruft er aus. Die Revolution hat die Zeit in ein Vorher und Nachher geteilt.

Bei der Abschlussdemonstration am Nachmittag ist die Stimmung ausgelassen. Fahnen und Popcorn werden feilgeboten, Zehntausende ziehen an dem von Militär bewachten, leerstehenden Glaspalast der früheren Regierungspartei vorbei. Gegenüber liegt die tunesische Zentralbank, hinter einer Hecke hat ein Obdachloser sein Lager aufgeschlagen. Morgen werden die Straßenkehrer die weggeworfenen Flugblätter einsammeln, die Solidarität mit Palästina fordern. Die jungen Männer werden wieder in den Cafés der Avenue Bourguiba sitzen und die Zeit totschlagen. Und die Läden in den Suks werden wieder öffnen und auf Touristen hoffen. „Eines Tages“, so hatte Mustafa, der Gewerkschafter, gesagt, „wachen wir auf und es gibt keine Korruption mehr, nur noch Schönheit!“ Das Recht auf Träume, es ist vielleicht die glücklichste Bestimmung von Würde.

Heidrun Friese

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