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Der Mensch, die Summe seiner Metadaten. Der NSA-Skandal hat das Bewusstsein für die informationelle Moral geschärft.

© REUTERS

Nach dem NSA-Skandal: Tarnkappen für alle

Innenminister Friedrich sagt: Schützt euch doch selbst. Aber werden wir deshalb jetzt auf die dunkle Seite des Internets wechseln? Wohl kaum, wie auch unser Einkaufsverhalten nach diversen Lebensmittelskandalen zeigt.

Sagenumwoben ist es, das Internet, voller simplifizierender Erklärungsversuche. Eine der hartnäckigsten Legenden lautet: Das Internet ist ein rechtsfreier Raum. Eine andere: Das Internet vergisst nichts. Beide Sätze sind so herrlich undifferenziert, dass ihr Gegenteil genauso wahr ist. Und sie sich außerdem für jegliche Art der politischen Argumentation instrumentalisieren lassen.

Trotzdem sind die Legenden jetzt erst mal passé. Abgelöst von jenem neuen Merksatz, der die künftigen Narrationen über das Internet prägen wird. Er lautet: Unsere gesamte Kommunikation wird überwacht. Keine Verschwörungstheorie – von denen es im Internet bekanntlich viele gibt – war krude genug, um das wahre Ausmaß vorauszusagen. Mit jeder neuen Enthüllung werden unsere von Dutzenden Hollywood-Filmen herangezüchteten Bespitzelungsfantasien aufs Düsterste bestätigt. Überall an den Knotenpunkten sitzen die weißen Herren in den grauen Anzügen, alles schneiden sie mit, die Unterseekabel haben sie genauso im Visier wie die Büros unserer EU-Abgeordneten oder die Server der amerikanischen Internet-Marktführer. Microsoft, Google, Apple, Facebook müssen mit ihnen kooperieren, die anderen Geheimdienste wollen es. Alle stecken irgendwie unter einer Decke, alle schnüffeln, alle lügen, und Begriffe wie Datenschutz und Privatsphäre sind nichts als Sand, der den Verbrauchern in die Augen gestreut wird.

Wäre das Ganze ein Drehbuch zu einem neuen 007-Streifen, wir würden die Nase rümpfen über einen derart einfallslosen Plot. So aber sind wir ratlos. Schon die Menge der geheimdienstlichen Datensammlungen ist für Nicht-Informatiker derart unbegreiflich, dass Journalisten und Politiker sich seit Wochen um sesamstraßentaugliche Vergleiche bemühen. Von Bücherstapeln, die bis zum Mond reichen, wird gefaselt, bei Peer Steinbrück sind es Disketten, die sich bis zur Sonne auftürmen lassen. Das sagt uns genauso wenig wie Tera- und Petabyte, erinnert aber an jene sepiafarbene Zeit, in der Wissen noch etwas mit Folianten und Bibliotheken zu tun hatte. Eine Zeit, in der Speichertechnologie – im haptischen Sinne des Wortes – besser begreifbar zu sein schien.

Heute, das haben wir jetzt verstanden, werden Erkenntnisse über die Menschheit mittels Algorithmen aus Big Data generiert, und wir sind nichts als dummes Klickvieh, dessen Verhalten möglichst flächendeckend vorausgesagt werden muss. Was ist der Mensch? Die neue Antwort auf die alte Frage lautet: Er ist die Summe seiner Metadaten. Sag mir, wann du wo mit wem kommuniziert hast, und ich sage dir, ob du ideologisch harmlos bist. Und natürlich auch, zu welcher Untergruppe des konsumistischen Mainstreams du gehörst. In welchem Viertel du wohnst, für welche Werbung du empfänglich bist, welches Auto du demnächst kaufen wirst.

Ob die Datenspeicherung und -analyse dabei eine Verheißung darstellen oder eine Bedrohung, hängt von der Perspektive ab. Man müsse abwägen, heißt es jetzt überall, Freiheit versus Sicherheit. Wohl dem, der jetzt noch Dichotomien hat, auf die er sich verlassen kann. Aber was wissen wir eigentlich von der „Sicherheit“ und der „Freiheit“? Die Kanzlerin ist wie immer zu klug, als dass sie sich auf das argumentatorisch brüchige Eis der Abewägung begeben würde. Sie setzt lieber auf eigene rhetorische Strategien. Ein Königreich für eine Alliteration! Auf „deutschem“ Boden müsse „deutsches“ Recht eingehalten werden. Doppel-D, das wird doch wohl auch in diesem Neuland Internet etwas gelten, oder nicht?

Der Bürger ist in seinem Erkenntnisprozess längst weiter. Unbeobachtet wähnt er sich schon lange nicht mehr, informationell selbstbestimmt erst recht nicht. Wie auch: Die Endgeräte sind Cookie-verseucht, Smartphones geben bereitwillig Auskunft über Standorte und Fortbewegung, soziale Netzwerke löschen nur, was sie wollen, also vermutlich nichts. Die Suchmaschine unseres Vertrauens weiß auch ziemlich viel, der Provider und der E-Mail-Anbieter ebenso. Natürlich können all diese Unternehmen gehackt oder beklaut werden, Datensätze können geleakt, Datenspuren nachträglich zusammengefügt und zu exakten Profilen kombiniert werden.

Wer sich heute im Internet bewegt, hat schnell das Gefühl, durch einen sauberen, farbenfrohen Supermarkt zu streifen. Hier wie dort weiß der Verbraucher, dass die Fassade eine Lüge ist, dass bei industriell erzeugten Lebensmitteln getrickst, gespritzt, gepanscht, gestreckt und gefärbt wird. Wenn dann irgendwo Pferdefleisch auftaucht, sind wir zwar empört, wundern uns aber nicht wirklich. Kollektive Desillusionierung könnte man das nennen, es ist der permanente schmerzhafte Lernprozess der Mediengesellschaft – und vielleicht ist es die damit verbundene Passivität, die uns demoralisiert und unsere Zivilgesellschaften zersetzt.

Weniger tägliche Internetvergnügen im Verschlüsselungsmodus

Der Mensch, die Summe seiner Metadaten. Der NSA-Skandal hat das Bewusstsein für die informationelle Moral geschärft.
Der Mensch, die Summe seiner Metadaten. Der NSA-Skandal hat das Bewusstsein für die informationelle Moral geschärft.

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Wie geht es weiter, wenn die Ausspäh-Affäre eines Tages von den Titelseiten verschwunden sein wird? Werden die Nutzer ihr digitales Leben nachhaltig ändern? Spätestens jetzt weiß jeder, dass es durchaus Möglichkeiten zur Gegenwehr gibt. Hacker betonen seit Jahren, wie wichtig es ist, Kommunikation zu verschlüsseln, Spuren zu verwischen, neuerdings interessiert sich auch eine breite Öffentlichkeit dafür. Man könnte für sich und seine Daten Tarnkappen installieren. Vorkehrungen treffen für den Browser, für die Festplatte, das E-Mail-Programm. Man könnte zu sogenannten Cryptopartys gehen und sich beibringen lassen, wie man Tor („The Onion Routing“) benutzt, dieses zwiebelartig aufgebaute Verschlüsselungsnetzwerk, mit dessen Hilfe man sich anonym durchs Internet bewegen kann.

Aber die Verschlüsselungsverfahren sind langsam und umständlich, sie brauchen Geduld und Spucke und müssen konsequent durchgehalten werden. Anders gesagt: maximale Mühen für minimalen Spaß. Die Hälfte der täglichen Internetvergnügungen funktioniert im Verschlüsselungsmodus nicht. Man darf sich nirgendwo mit echtem Namen einloggen, man kann keine Chronik anlegen, keine Formulardaten speichern und niemals mit Freunden verkehren, die unverschlüsselt kommunizieren! Es wäre nicht mehr das komfortable, unterhaltsame, dienstbeflissene Internet, wie wir es kennen, sondern eine komplett andere, fremde, geheimniskrämerische Welt. Die uns nicht verlockend erscheint.

Absolute Anonymität wird aber auch die kleine Minderheit derer nicht finden, die zu radikalen, selbstbeschneidenden Schutzmaßnahmen greifen. Die Online-Seelenwelt differenziert sich aus. Es gibt das Ich und das Es, die vermeintlich kontrollierte Bedürfnisbefriedigung und das verborgene Universum hinter der Benutzeroberfläche, den Mainstream und die schmuddelige Unterwelt, das „Darknet“, in das man mit dem Tor-Browser gelangen kann. Selbst dort lauern Verfolger. Im verdrängten Triebraum der Internet-Gesellschaft, weit weg von den hygienischen Oberflächen der amerikanischen Monopolisten, treiben sich nicht nur Whistleblower und Anonymous-Aktivisten herum, sondern auch Drogendealer, Waffenhändler und Pädophile. Und auf deren Spuren bewegen sich wiederum verdeckte Ermittler. Auch hier werden Fallen gestellt, Scheinnetzwerke errichtet, Identitäten enttarnt.

Schon wegen der fragwürdigen Gesellschaft, die man dort hat, ist der Gang in den digitalen Untergrund für die meisten Nutzer keine Option. Aber nach den Enthüllungen über Prism und die NSA meldet sich jetzt das Über-Ich, das einem vielleicht keine Schuldgefühle bereitet, aber doch ein wachsendes Unbehagen. So wird mancher vielleicht doch mal eine E-Mail verschlüsseln. Oder die Festplatte mit einem Passwort sichern. Man wird etwas vorsichtiger, mit einem Hauch mehr kritischem Bewusstsein im Netz unterwegs sein.

Die Mentalität der Nutzer beginnt sich zu ändern, sehr langsam. Um noch einmal den Vergleich mit den Supermärkten zu bemühen: Nach Jahrzehnten voller Lebensmittelskandale und Berichten über Massentierhaltung ist das Ernährungsthema inzwischen Bestseller- und Talkshow-tauglich geworden. Der Marktanteil der Biolebensmittel in Deutschland betrug 2012 knapp vier Prozent. Man kann das für bemerkenswert viel halten – oder für erschreckend wenig.

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