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Nach den Attentaten von Paris: Die Heilung des Unheilbaren

Wie der französische Künstler Kader Attia gesellschaftliche Neurosen untersucht. Eine Video-Installation in Berlin.

Das Unerklärliche der Pariser Attentate zu erklären, das haben in den vergangenen Tagen bereits viele unternommen. Warum es nicht mit Psychopathologie versuchen, der Lehre der psychischen Erkrankungen? Verbirgt sich hinter den Terrorakten des IS, dem steigenden Zulauf junger Leute womöglich eine kollektiv um sich greifende Neurose? Das Kino, die Literatur versuchen schon länger darauf Antworten zu geben, das Thema wird in zahllosen Filmen und Büchern behandelt. Die Kunst hält sich da bislang eher zurück.

Der Vortrag von Kader Attia in seiner Galerie am Rosa-Luxemburg-Platz stand schon lange vor den furchtbaren Ereignissen vom 13. November auf dem Programm. Der französische Künstler mit Wohnsitz in Berlin und Algier beschäftigt sich seit Jahren mit den Verletzungen, die sich ganze Gesellschaften gegenseitig zufügen, und mit den Traumata, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Sein Raum unter dem Dach des Fridericianums gehörte zu den eindrucksvollsten Beiträgen auf der Documenta in Kassel vor drei Jahren. In dem abgedunkelten Saal standen meterhohe Regale voller hölzerner Schädel, auf denen sich die Narben von Stammesriten und vom Ersten Weltkrieg brutal abzeichneten. Die Ähnlichkeiten waren erstaunlich.

Inzwischen beschäftigt sich Attia mit Formen möglicher Heilung. Wie bei seinem Documenta-Beitrag sucht der in den Pariser Banlieues aufgewachsene Künstler mit algerischen Wurzeln sie nicht nur bei den westlichen, aufgeklärten Gesellschaften, sondern auch bei den traditionellen Gemeinschaften etwa von Afrika, wo noch an Hexenkraft geglaubt wird. Inzwischen hat er eine Videobibliothek mit gefilmten Interviews zusammengestellt, die er mit Philosophen, Ethnologen, Historikern, Psychologen, Patienten, Heilern, Musikologen führte. Auf der Biennale in Lyon waren 17 Interviews zu sehen, präsentiert auf Bildschirmen, die auf gewöhnlichen Schreibtischen standen, als gehörten sie zu einem Büro.

Die Galerie Nagel Draxler zeigt unter dem Titel „Reason’s Oxymorons“ in einer über den Galerieräumen gelegenen Wohnung Ausschnitte daraus. Hier kriecht plötzlich die Geschichte des Ortes durch die Ritzen, alte Tapeten von den Vormietern kleben noch an den Wänden, der Holzboden zeigt die dunkelrote Originalfarbe aus der Entstehungszeit des Poelzig-Baus Ende der zwanziger Jahre. Spuren der Vergangenheit treten hervor. In jedem Zimmer wird eine andere Projektion an die Wand geworfen, ein anderer Versuch geliefert, die menschliche Psyche zu ergründen. Der Unterschied, wie in westlichen Gesellschaften und in den dörflichen Gemeinschaften Afrikas mit dem Unbewussten umgegangen wird, könnte nicht größer sein. In Europa steht Sigmund Freuds Couch für den Einzelnen bereit, bei Stammesgemeinschaften nimmt das Kollektiv am Heilungsritual teil.

Schon bei der ersten Präsentation von Attias Interview-Bibliothek im September in Lyon sprang der Bezug zu den Attentaten auf „Charlie Hebdo“ ins Auge, mit dem die Installation unmittelbar gar nichts zu tun hatte. Um wie viel mehr offenbart sich die Verbindung nun in Berlin kurz nach den Attentaten von Paris. Eine Antwort aber hat Kader Attia für die neuen Exzesse der Gewalt auch diesmal nicht parat, sein Interesse für den unterschiedlichen Umgang mit Neurosen in aufgeklärten und traditionellen Gesellschaften ist Koinzidenz.

Und doch nicht ganz. Wenn öffentlich über kolonialistisches Erbe nachgedacht wird, gehört der Franzose inzwischen zu den Ersten, die von Ausstellungsmachern angefragt werden. Kein Wunder also, dass er zu den Gästen des Humboldt-Lab in Dahlem gehörte, das für die künftige Ausstellung der Ethnologischen Sammlungen im Stadtschloss neue Formen der Präsentation erprobte.

Hier geht es um die Darstellung von kulturellem Selbstverständnis und wechselseitigem Verstehen in einer globalisierten Welt. Genau dagegen richtet sich auch der Terror des Islamischen Staats. In seinem Beitrag beklebte Attia eine Dogon-Maske aus Mali mit Spiegeln, sodass der Betrachter zugleich sich selbst und das fremde Andere sehen konnte. Attia legt damit den Doppelblick nahe. In seiner Berliner Installation empfiehlt er beide Formen der seelischen Heilung: die rationale Herangehensweise westlicher Gesellschaften und die vermeintlich irrationale von Stammesgemeinschaften.

Galerie Nagel Draxler, Weydingerstr. 2/4, bis 28. November; Di bis Fr 11 – 19 Uhr, Sa 11 – 18 Uhr.

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