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Kultur: Nach den Eierwürfen: Der weiche Kern

Wenn man die Ereignisse in letzter Zeit nüchtern betrachtet, scheint sich beim langjährigen Bemühen, Politiker bei ihren Reden auf öffentlichen Plätzen mit Naturprodukten zu bewerfen, ein Paradigmenwechsel vollzogen zu haben. Während früher eindeutig die Tomate den Vorrang hatte, scheint sich nun immer mehr das Ei in den Vordergrund zu schieben.

Wenn man die Ereignisse in letzter Zeit nüchtern betrachtet, scheint sich beim langjährigen Bemühen, Politiker bei ihren Reden auf öffentlichen Plätzen mit Naturprodukten zu bewerfen, ein Paradigmenwechsel vollzogen zu haben. Während früher eindeutig die Tomate den Vorrang hatte, scheint sich nun immer mehr das Ei in den Vordergrund zu schieben. Eine Umfrage unter älteren Mitbürgern ergab, dass in deren jugendlichen Jahren die Tomate unhinterfragt die Nummer Eins war. Das mittlerweile häufig zitierte und fast schon zum Leitmotiv gewordene Bewerfen der damaligen Kulturpolitikerin Hanna-Renate Laurien im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf der siebziger Jahre geschah ganz selbstverständlich mit den Früchten dieses Nachtschattengewächses. Auch als der damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger 1969 auf dem Marktplatz des hohenlohischen Fleckens Weikersheim weilte, hatten einige Zuhörer diese heimischen Produkte dabei.

Die Tomate ist billig, besteht fast nur aus Wasser und zeichnet sich deswegen durch eine gewisse Harmlosigkeit aus. Obwohl der Effekt zunächst erheblich ist: Die Tomate ist rot. Und dieses Rot schmerzt. Auf der anderen Seite hat das aber auch für den Politiker, der getroffen wird, seine Vorteile - die Tomate ist relativ gut wieder wegzuwischen, und sie steht durch ihre rote Farbe symbolisch viel eindeutiger für die Opferbereitschaft des Politikers.

Das Ei dagegen ist tückisch. Man sieht auf den betreffenden Fotos, dass die Politiker vor dem Ei viel mehr Respekt haben. Dass früher das Ei eher selten zum Einsatz kam, liegt zum großen Teil daran, dass es im Einkauf viel teurer kommt. Die Tomate hingegen ist, wenn man einen eigenen kleinen Garten hat - ein Balkon genügt auch - so gut wie umsonst. Es ist aber vor allem die Konsistenz des Eis, die den großen Unterschied zur Tomate ausmacht. Unter der öden, stark kalkhaltigen Schale befindet sich nicht nur das eher neutrale Wasser, sondern es hat etliche klebrige, zähe, sekretartige Bestandteile; das Eiweiß erinnert in seinen Haft- und Fließeigenschaften gar an Spermatozoen und ähnliche, leicht mit etwas Obszönem zu assoziierende Stoffe.

Abgesehen davon also, dass das Eierwerfen einen beklagenswerten Ausdruck von Wohlstandsverwahrlosung darstellt: Es kündet, gerade im Vergleich mit der sich sanft anschmiegenden Tomate, von einem beängstigenden Kulturverfall. Es geht nicht um etwas Klebriges, nicht um die harte Schale. Es geht um den ganz weichen Kern.

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