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Kultur: Nach der Erschöpfung kommt die Moral

Schluss mit der Dekadenz: Frank Castorf über Berlins Armut, Claus Peymann und die Zukunft der Volksbühne

Herr Castorf, ist Berlin nach dem Karlsruher Urteil jetzt komplett Unterschicht?

Berlin ist eine besondere Stadt und deswegen vielen ein Dorn im Auge. Das Urteil von Karlsruhe ist ein Skandal. Es wird Auswirkungen haben auf das, was Berlin ausmacht – die Universitäten, die Kultur. Aber vor allem wird die Geldnot jene treffen, die sozial ohnehin auf der Kippe stehen. Viele Menschen können sich ärztliche Behandlung nicht mehr leisten, sie werden deklassiert. Vielleicht waren die Jahre unmittelbar nach 1989 die beste Zeit in dieser Stadt, als die ganze Situation noch offen war, rau, hoffnungsvoll, fragmentarisch.

Das klingt nostalgisch. Sie leiten die Volksbühne seit fünfzehn Jahren. Der Mut und die Wut des Beginnens, die Anarchie sind naturgemäß dahin. Können neue soziale Spannungen das Theater aufwecken?

Als Leiter eines Kulturinstituts muss mich das Soziale interessieren. Wir werden bald ein anderes soziales Konfliktpotenzial vorfinden, daran wird man sich reiben. Man kann auch eine neue Solidarität mit dieser Stadt gegen den Rest der deutschsprachigen Welt zeigen. Die Karlsruher Entscheidung ist knallhart für die Hauptstadt. Denken Sie an die unmöglichen Privilegien der Politiker und Staatsbeamten, die überredet werden mussten, in dieses furchtbare Berlin zu ziehen.

Damals haben Sie die Volksbühne als Ruine übernommen. Heute ist sie ein Mythos. Was ist einfacher – ein Theater aus dem Nichts aufzubauen oder mit dem eigenen Mythos zu leben?

Aus einer Unmöglichkeit wie damals zum Erfolg zu kommen, ist erstmal leichter. Fünf Jahre hast du eine revolutionäre Hochphase, in Frankreich war die von 1789 bis 1794, dann fangen die Verwerfungen an, das Direktorat, die Alleinherrschaft. Ich bin tief in der napoleonischen Zeit, aber noch weit vor Moskau.

Und die Castorfsche Kaiserkrönung?

Die hatten wir schon.

Waterloo war 1815. Sie regieren bis 2013, wenn alles gut geht.

Gottseidank blieb der Charme des Hauses erhalten. Kantine, Toiletten sind immer noch Ruine. Aber das Publikum ist erschöpft, die Kritiker auch. Die Leute sind auf sich zurückgeworfen, sie können nicht mehr mitten in der Woche drei-, vier-, fünfstündige Theaterabende ansehen. Die Aufgeregtheit, die Lust ist weg. Andererseits ärgere ich mich über Regisseure, die Stücke stark „entkernen“: anderthalb Stunden, und ab in die Kantine.

Die Künstler der Volksbühne sind nicht erschöpft?

Natürlich, man ist ein Teil der Gesellschaft. Das Wunder von Klinsmann und der Nationalmannschaft war unglaublich, aber nach dem Sommer kam wieder die große Müdigkeit, wir haben Große Koalition. Im Gegensatz zu Schröder und Fischer sind die Politiker alle nicht mehr sexy. Angela Merkel ist vielleicht eine ehrliche Haut, da willst du nicht draufhauen. Wo ist da Sehnsucht, Hoffnung, alle ziehen sich wahnsinnig zurück. Ich bin ja auch ein Außenpolitiker und jetzt oft in Kuba und Brasilien, die soziale Entwicklung in Lateinamerika ist atemberaubend, und das gibt mir Kraft, Motivation.

Berlin allein gibt Ihnen nicht mehr genug Motivation?

Ich sage immer, die DDR war wie ein stehendes Gewässer, ein Sumpf ohne Ab- und Zufluss. Ich brauche beides, den Kiez und den Amazonas. Das macht die Volksbühne aus. Ihre sinnliche, slapstickhafte, komödiantische Spielweise. Es ist immer die besondere Betrachtungsweise von Menschen in besonderen politischen Situationen. Das lasse ich mir nicht wegnehmen. Regisseure wie Marthaler, Schlingensief, Gotscheff , Simons, Pollesch haben dieses Besondere. Sebastian Baumgarten wird bei uns arbeiten, er kommt aus einer anderen Generation. Sicher müssen wir uns auch mit einer anderen Sorgfalt um jüngere Leute kümmern.

Richard Wagner scheint für die Volksbühne das Zaubermittel zu sein. Sie haben die „Meistersinger“ inszeniert, Schlingensief war in Bayreuth, auch Marthaler und Pollesch greifen nach Wagner. Was haben Sie da alle verloren – oder gefunden?

In der nächsten Spielzeit wollen wir Komödien machen – populär, schnell, durchaus konventionell. Boulevard kann hochpolitisch sein. Wir brauchen die Beschleunigung, die ständige Überforderung des Hauses, das passt zu Berlin. Und da bin ich bei Wagner: Der Chor der „Meistersinger“ setzt sich aus allen unseren Abteilungen zusammen, Werkstätten, Verwaltung, Requisite. Die Leute singen, sie fühlen sich ernst genommen, nicht nur als Zulieferer eines Kunstbetriebs, das ist in dieser Gesellschaft nicht selbstverständlich. Keiner schaut auf die Uhr, auf einmal ist eine Fröhlichkeit in dieses Haus gekommen! Und das ist nicht nur dilettantisch. Alexander Kluge sagte mir, wenn Oper innovativ sein kann, dann so.

Viele Schauspielregisseure flüchten in die Oper – Sie auch?

Bayreuth interessiert mich nicht sehr. Aber wenn ich Oper angreifen kann, ohne sie nur doof zu zerstören, dann macht mir das Spaß. 2008 werde ich wahrscheinlich mit Wolfgang Rihms „Lenz“ die Wiener Festwochen eröffnen. Bei dieser Komposition habe ich das Gefühl, dass die Sänger sich zur Musik hinschreien. Das hat viel Ähnlichkeit mit unserer Schauspielsprache.

Ist Musik für Sie eine Erlösung?

Musik ist befreiend. Aber es geht mir auch darum, dass die Schauspieler wieder Spaß an ernsthafter, auch quälender Arbeit finden. Wagner für Schauspieler ist ungeheuer schwer, da muss man schon gut vorbereitet auf die Bühne kommen. Wagner und sein Gesamtkunstwerk: Er hat das als Erster so formuliert. Wir haben an der Volksbühne die filmischen Wege ausprobiert, nicht als bloße Videokultur, sondern als mitspielendes episches Element. Mit der Musik kommt wieder etwas Neues. Mischformen haben wir immer praktiziert - deshalb wird auch der Bildende Künstler Jonathan Meese eine eigene Inszenierung machen.

Sie haben sieben weitere Jahre vor sich an der Volksbühne. Wie frischen Sie das Haus auf – und sich selbst?

Wenn wir nicht selbst Impulsgeber sind, ist es einfach Scheiße. Wir sind früher, zu Zeiten von Matthias Lilienthal, dem Markt nicht hinterher gelaufen. Wir werden, wie gesagt, wieder schneller arbeiten. Auch Schauspieler wie zum Beispiel Martin Wuttke haben neue Ideen. Wir wollen die Ressourcen mobilisieren. Der Geist des Hauses ist schnell, und in der Schnelligkeit liegt auch die Intelligenz.

Wird Henry Hübchen, Ihr Protagonist der frühen Jahre, Ihr Alter Ego, wieder eine neue Rolle an der Volksbühne spielen?

Er wird, nach all seinen Fernseh-Kommissaren, in ein paar Jahren wieder die Sehnsucht haben, Theater zu spielen. Henry ist fast 60, aber ich verlange unmögliche Sachen von ihm, weil ich mich selbst wie 28 fühle. Da sagt er: Mann, das ist ja wie zehn Filme, was ich da machen muss, und dann vor den paar Leuten. Die Leugnung biologischer Tatsachen hat ihren Charme, aber auch ihre Grenzen. Wir haben uns manchmal so ausgemärt, im Selbstreflexiven. „Forever Young“, meine Inszenierung von 2003, war eine schöne Arbeit, aber ein Endpunkt. Die Kathi, der Martin, der Frank, alle unter der Bettdecke . . . dieses ständig verrätselte Spiel der Privatismen. Ein ungeheuer dekadenter Höhepunkt, ich wollte ihn. Aber wie willst du dann weitermachen? Es reicht. Irgendwann muss man über seinen Schatten springen. Diese Verwöhntheit ist in den Zeiten, die auf uns zukommen, einfach nicht mehr möglich. Die Stadt ist arm, es gibt viele Risse, und die muss man mitdenken. Wir sind oft zuviel Berlin-Mitte.

Dostojewski und die Religion, Kapitalismus und Stalinismus – offenbar sind die massiven Themenblöcke an der Volksbühne jetzt ausgereizt.

Wir haben uns manchmal zu eitel in der Öffentlichkeit dargestellt, mit unseren sexy Schauspielerinnen auf Plastiktüten. Jetzt haben wir diese lateinamerikanischen Plakate, da denkst du an Russ Meyer oder Che Guevara, und das ist stimmig für das Image und den Geist der Volksbühne. Die Welt ist nicht so, wie wir uns das in Deutschland vorstellen. Die amerikanische Hegemonie und das andauernde Starren auf China: Ich bin froh, dass sich in Lateinamerika ein anderer Block entwickelt. Da sehe ich soziale Utopie.

Propagieren Sie eine neue Arbeitsmoral für das Theater?

Man kann ja über Claus Peymann sagen, was man will. Ob er ans BE gehört, an das Haus von Brecht, Müller, Schleef. Aber Peymann ist ein guter Theaterarbeiter. Das Berliner Ensemble ist ein gut funktionierender Betrieb.

Lob von Castorf für den Intimfeind Peymann? Was kommt da auf uns zu?

Wir müssen eine neue Neugier und Bescheidenheit entwickeln. Der Arbeitsgegenstand Theater wird sich, da bin ich mir sicher, nach Karlsruhe verändern.

– Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.

Frank Castorf, 1951 in Berlin geboren, leitet seit 1992 die Volksbühne. Er gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Regisseuren. Kürzlich hat er seinen Intendantenvertrag bis zum Jahr 2013 verlängert. Zuletzt inszenierte er Richard Wagners Meistersinger . Im November wird Castorf in Sao Paulo , Brasilien, arbeiten. Er plant u.a. zur Komplettierung seiner DostojewskiReihe eine Bühnenfassung der Brüder Karamasow und Wolfgang Rihms Kammeroper „Lenz“ . Zu den Regisseuren der Volksbühne gehören Christoph Schlingensief, Christoph Marthaler, Dimiter Gotscheff und Sebastian Baumgarten.

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