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Kultur: Nachfragen zur Bioethik-Debatte: Einhundert Zellen

Kurz vor seinem Amtsantritt als Kulturstaatsminister argumentierte der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Tagesspiegel gegen eine kategorische moralische Unzulässigkeit der sogenannten "verbrauchenden" Embryonenforschung. Ein unbedingtes moralisches Verbot, so Nida-Rümelin, könne nur mit der Verletzung der Menschenwürde begründet werden.

Kurz vor seinem Amtsantritt als Kulturstaatsminister argumentierte der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Tagesspiegel gegen eine kategorische moralische Unzulässigkeit der sogenannten "verbrauchenden" Embryonenforschung. Ein unbedingtes moralisches Verbot, so Nida-Rümelin, könne nur mit der Verletzung der Menschenwürde begründet werden. Die aber komme allein solchen menschlichen Wesen zu, die der Selbstachtung fähig seien - mithin nicht dem menschlichen Embryo. Dass damit auch geborenen Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen nicht selbst achten können, ihre Menschenwürde abgesprochen würde, diskreditiert dieses Argument. Die Kritik an Nida-Rümelin richtet sich jedoch gegen jede moralische Rechtfertigung der Embryonenforschung.

In vielen Ländern wird derzeit freilich diskutiert, ob frühe Embryonen zur Gewinnung noch unspezialisierter ("Stamm"-)Zellen verwendet werden dürfen, um mit ihrer Hilfe neue Behandlungsmethoden zu entwickeln. Man hofft dabei auf die Heilung von Alzheimer, Multipler Sklerose oder degenerativer Herzerkrankungen, ja generell auf Möglichkeiten des Gewebe- und Organersatzes. Strittig ist jedoch, ob embryonale Stammzellen für diese Therapieansätze zumindest vorübergehend unentbehrlich sind oder nicht. In diesem Punkt muss die Ethik sich auf den Sachverstand der betroffenen Wissenschaft berufen können.

Kleiner als ein Punkt

Bei dem hier diskutierten Entwicklungsstadium von Embryonen geht es um einen Verband von etwa hundert noch unstrukturierten und undifferenzierten Zellen, der insgesamt kleiner ist als ein Punkt in diesem Text. Wer so weit entwickelte Embryonen, die sich unter natürlichen Bedingungen noch nicht in die Gebärmutterschleimhaut eingenistet hätten, zur wissenschaftlichen Forschung verwendet, nimmt ihnen die Möglichkeit, sich nach einer Implantation in die Gebärmutter einer Frau zu einem Kind weiterzuentwickeln. Extrakorporale Embryonen könnten theoretisch aus einem künstlichen Fortpflanzungsversuch "übrig geblieben sein" (was hierzulande gesetzlich weitgehend verhindert wird), oder sie könnten gezielt zur Forschung erzeugt werden - sei es durch künstliche Befruchtung oder ungeschlechtlich mit Hilfe der "Dollymethode". Hier wären unterschiedliche Kausalbeteiligungen, Motive und Missbrauchspotenziale im Spiel, die Anlass auch für unterschiedliche Bewertungen geben können. Doch in einem ersten grundsätzlichen Schritt ist zu klären, ob frühe Embryonen - 100-zellige Wesen mit dem Potenzial, sich unter geeigneten Umständen zu einem Kind zu entwickeln - einen moralischen Anspruch auf kategorischen Lebensschutz haben.

Allein das Zuschreiben von Menschenwürde reicht als Argument noch nicht aus. Menschenwürde ist ein notorisch unscharfer Begriff. In der Tradition der Aufklärung ist Menschenwürde an der Fähigkeit zur Vernunft orientiert - ein Verständnis, an das Nida-Rümelins These anknüpft. Doch in unser Alltagsmoral - und ebenso als Verfassungsnorm - ist Menschenwürde ein elementarer Leitwert im Umgang mit jedem einzelnen Angehörigen der menschlichen Gattung. Diese oberbegriffliche Breite allerdings bedingt inhaltliche Unbestimmtheit jedenfalls an den Rändern: Was der Respekt vor der Menschenwürde frühen ungeborenen Lebens verlangt, kann von (vielleicht nur symbolischer) Achtung über einen "abgestuften" bis hin zum kategorischen Lebensschutz reichen. Auf der Ebene dieser entscheidenden und erbitterten Kontroversen, die aus den Diskussionen um den Paragraphen 218 bekannt und durch dessen kompromisshafte Reform nur spärlich verdeckt wurden, richtet der bloße Appell an einen ungeklärten Begriff der Menschenwürde nur wenig aus - hier muss konkreter argumentiert werden.

Dafür, dass frühe Embryonen unter einem kategorischen Lebensschutzgebot stehen, werden vor allem zwei Begründungen angeführt: der Schöpferwille Gottes und das Potenzialitätsargument. Einer säkularen Ethik steht die theologische Diskussion des ersten Arguments nicht offen, aber auch nicht im Wege. Wie jedoch steht es um das schon klassisch zu nennende Argument, Embryonen seien als potenzielle Personen ebenso zu schützen wie wirkliche Personen? In einem Beitrag für den Tagesspiegel (vom 13. 1.) hat Wilhelm Vossenkuhl dieses Potenzialitätsargument für frühe Embryonen verworfen. Seine Begründung, bis zur zweiten oder dritten Entwicklungswoche könnten sie sich noch zu Mehrlingen teilen, erbkrank sein oder absterben, ist faktisch korrekt. Doch mindert das die Potenzialität?

In der hier gebotenen Kürze: Die noch nicht erfolgte Individuierung ist (obgleich etabliertes Argument auch mancher liberaler Katholiken) nicht von Belang; wer Embryonen als potenzielle Personen beschreibt, behauptet ja nicht, Embryonen seien schon Personen - nur eben solche im Stadium der Potenzialität. Er behauptet also, sie seien Entitäten, aus denen einmal Personen werden können. Die anderen von Vossenkuhl genannten Aspekte schließen Potenzialität gleichfalls nicht aus, denn auch späte Embryonen können absterben, auch geborene Menschen können erbkrank sein.

Wir haben also davon auszugehen, dass selbst Embryonen im Frühstadium potenzielle Personen sind. Doch was folgt für die Frage des Lebensschutzes? Die kategorische Position - wie sie das Bundesverfassungsgericht und vor kurzem Robert Spaemann in der "Zeit" vertreten haben - macht hier zwischen tatsächlichen und potenziellen Personen keinen Unterschied. In der bereits Jahrzehnte währenden philosophischen Debatte hierüber verweist der Standardeinwand auf das Verhältnis von Potenzialität und Aktualität: Wenn der König bestimmte Rechte hat, so doch nicht schon der potenzielle König.

Ein weiterer Einwand: Wenn als Embryo jede Zelle oder Zellformation gilt, die "sich unter geeigneten Umständen zu einem menschlichen Organismus entwickeln kann" (so das geltende Embryonenschutzgesetz), dann fallen hierunter zunächst einmal diejenigen befrucheten Eizellen, die sich unter natürlich-reproduktiven Umständen entwickeln. Im Zeitalter der künstlichen Befruchtung kommen die in vitro gezeugten Embryonen hinzu, aber auch deren Einzelzellen bis zum Verlust ihrer Totipotenz (jenseits des 8-Zell-Stadiums).

Nach allem, was die heutige Wissenschaft weiß und vermutet, könnten sich in Zukunft aber auch x-beliebige Haut- oder Blutzellen des erwachsenen Organismus durch künstliche Beeinflussung des chemischen Zellmilieus in das Stadium der Totipotenz reprogrammieren lassen. Gewiss, die "geeigneten Umstände" sind dann hoch artifiziell, doch hätte jede Körperzelle das Potenzial zur vollständigen Menschwerdung. Dass dieses Potenzial niemand ausschöpfen dürfte, und dass die Reprogrammierung einer Hautzelle etwas ganz anderes ist als die natürlich Fortpflanzung, steht außer Frage. Aber es zeigt sich, dass die Anerkennung unbedingten Lebensschutzes von Entitäten mit vollständigem Menschbildungspotenzial "unter geeigneten Umständen" so nicht haltbar ist.

In der herrschenden Alltagsmoral scheinen jene nicht-kategorischen Auffassungen zu überwiegen, nach denen frühe Embryonen wohl Achtung und Respekt verdienen, aber unter manchen Umständen keinen Lebensschutz. Ob dieser mit der Gehirnbildung, dem Entstehen der Empfindungsfähigkeit oder mit irgendeinem anderen, späteren Entwicklungsschritt einsetzen sollte, kann hier offen bleiben. Tatsachen - auch Rechtstatsachen - sind die Existenz und breite Akzeptanz einer im Ergebnis freizügigen Abtreibungspraxis sowie die straffreie und akzeptierte Benutzung von Spiralen zur Abtötung früher Embryonen.

Paragraph 218

Wer, wie anscheinend die Mehrheit unserer Bevölkerung, diese Praxis moralisch vertretbar findet, der muss sich die Frage stellen, warum dann die Abtötung ebenso früher Embryonen für vielversprechende Therapieforschung nicht erlaubt sein sollte. Mit Blick auf die Abtreibungspraxis wird dieses Argument oft mit dem Verweis auf die existenzielle Konfliktlage der Frau und auf deren Selbstbestimmungsrecht abgewehrt.

Schon dieses Argument ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Doch jedenfalls für Hunderttausende von Spiralenbenutzerinnen und ihre darüber unterrichteten Angehörigen und Freunde muss man wohl einräumen: Hier erfolgen keine schmerzhaften und belastenden Abwägungen. Hier wird Lebensschutz gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen - einfach weil die betroffenen Frauen, aus welchem Grunde auch immer, nicht schwanger werden wollen. Und was die Selbstbestimmung betrifft: Natürlich dürften auch "Forschungsembryonen" nur mit der ausdrücklichen Zustimmung ihrer genetischen Eltern verwendet werden.

So betrachtet, verfängt auch die Klage über den angeblichen Verfall der Ethik (bei den Briten, dem Kulturstaatsminister und manchem anderen) nicht: Die Bereitschaft, frühe Embryonen abzutöten, ist bei der Kontrolle der Fortpflanzung weit verbreitet. Aus der Sicht einer säkularen Ethik kann dies auch nicht als unzulässig bezeichnet werden. Wenn nun, nach bestem Wissen, der forschende Verbrauch früher Embryonen darauf hoffen lässt, den Leiden schwerstkranker Mitmenschen abzuhelfen, dann müsste auch dieses Abtöten moralisch zulässig sein.

Die Autorin[Medizinerin], Privatdozentin der Ph

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