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Polyphon. John Asbery 1998 zu Besuch in der Berliner Literaturwerkstatt.

© imago/gezett

Nachruf John Ashbery: Flussbild mit schwarzen Löchern

Was schreibe ich, und was schreibt mich? Zum Tod von John Ashbery, Amerikas bedeutendstem Dichter

Von Gregor Dotzauer

Er war schon in seinen Siebzigern, als er beim Essen in der American Academy am Wannsee erzählte, wie ihn nach einer Lesung jemand ganz verschämt gebeten habe, einen kleinen Stapel Bücher zu signieren. Das Problem, so der Verehrer, sei allerdings, dass kein einziges von ihm, dem Dichter John Ashbery, stamme. Ashbery zögerte nur kurz und versah sie alle mit seiner Unterschrift. Was für ein Moment. Denn ob ihm Krimis, Ratgeber, Philosophisches oder fremde Lyrik unter die Finger gekommen sein mag: Man kann behaupten, dass Ashbery sie alle geschrieben hat – in dem Maß, in dem sie ihn geschrieben haben. Seine Texte waren auf eine Weise offen für andere Texte, dass die Frage nach ihrer Autorschaft sich fast erledigen würde, wenn sie dadurch imitierbar geworden wären.

Heerscharen nachwachsender Dichter versuchten, ein ähnliches Amalgam von Eigenem und Fremdem herzustellen: In der Nachbildung von Bewusstseinsprozessen, die eine Sekunde lang eine Erinnerung oder einen Gedanken fassen, um dann ab- und umgelenkt zu werden, waren sie nicht halb so überraschend, witzig und vokabelreich wie er. Genau deshalb blieb er der unerreichte Meister einer Poesie, die zugleich völlig klar und völlig unverständlich war. Sie stürzte sich ins Erzählende und führte in nullkommanichts in eine Sackgasse, aus der sie sich mit einem Salto befreite. Sie gab vor, Bestandteile der äußeren Welt abzubilden, und bewegte sich doch in einem ganz aus Sprache gebauten Raum, der auf nichts jenseits seiner selbst verweisen wollte.

John Ashbery, 1927 in Rochester, New York, geboren, operierte an einer Grenze von Ordnung und Chaos, an der das Individuum seine Konturen verliert und jedes Ich sich als bloß zweckdienliche Fiktion entpuppt. Was denke ich? Und was denkt mich? Zwischen diesen Polen entwarf er Versgebilde, deren polyphoner, perspektivisch vielfach gebrochener Reiz sich so lange erschließt, wie man ihm nicht gewaltsam einen mitteilbaren Sinn entreißen will. Mit seiner Lyrik der Unbestimmtheit und der Depersonalisierung radikalisierte Ashbery die noch erkenntnistheoretisch lesbaren Gedichte seines großen Vorgängers Wallace Stevens und öffnete sie ins Ortlose. Dafür stehen nicht zuletzt die Pronomen, die ein logisch lückenloses Sinngefüge suggerieren, wo in Wahrheit nur ein Abgrund lauert. Wer ist dieses „Es“? Wer ist dieses „Er“? Und wer spricht überhaupt?

Das Profane trifft auf das Erhabene

Bei seinem „Floating“ genannten Verfahren kam ihm ein unbestechliches Gefühl für Klang und Rhythmus zu Hilfe – und ein furchtlos spielerischer Umgang mit den Kontrasten zwischen dem Profanen und dem Erhabenen. Ashbery beerbte die Gesänge von Walt Whitman, der mächtigsten Stimme der amerikanischen Dichtung. Und er fügte sich ein in die selbstverständliche Inanspruchnahme der Alltagskultur, wie sie für Frank O’Hara oder Kenneth Koch, die Freunde von der sogenannten New York School und für die bildnerische Pop Art prägend war. Ein Drittes war der Einfluss des Surrealismus, den er als Fulbright-Stipendiat in Frankreich zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Jahre vor Ort erlebte. Er verfiel sowohl der pataphysischen Magie von Raymond Roussel wie auch dem persönlichen Charme seines langjährigen Liebhabers Pierre Martory, den er ins Englische übersetzte.

1956 debütierte er mit dem Band „Some Trees“ in der von W.H. Auden, herausgegebenen „Yale Younger Poets Series“, auch wenn Auden zugeben musste, kein Wort verstanden zu haben. Fast 20 Jahre lang ging es den Portalwächtern der amerikanischen Poesie ähnlich, bis ihm sein auch ins Deutsche übersetzter Band „Selbstporträt im konvexen Spiegel“ 1976 sowohl einen Pulitzer-Preis als auch einen National Book Award eintrug. Von da an zählte ihn nicht nur Harold Bloom zu den Größten seiner Zunft.

Ashbery war ein spontaner Schreiber von hoher Produktivität, dessen Eruptionen doch immer geduldige Feinarbeit folgte. Seine Produktivität bis ins hohe Alter trug auch für mehrere Generationen deutscher Übersetzer Frucht, angefangen bei Joachim Sartorius, bis hin zu einer Legion jüngerer deutscher Dichter, bestehend aus Uljana Wolf, Hendrik Rost, Jan Wagner und vielen anderen, die ihm mit der Übertragung von „A Worldly Country“ (Ein weltgewandtes Land) Tribut zollten, leider mit zuweilen schaurigen Sprachverrenkungen, als bedürfte die geschmeidige Oberflächengestalt von Ashberys Gedichten einer variantenreichen Ausleuchtung. Unzweideutiger die verdienstvolle Übersetzung des epischen Gedichts „Flow Chart“ (Flussbild) durch Matthias Göritz und Uda Strätling.

Was zitieren? Und: Wie zitieren bei einem Mann, der erklärte, seine eigenen Gedichte nach kürzester Zeit zu vergessen? Ende Juli, zu seinem 90. Geburtstag, wählten 90 Ashbery-Bewunderer im Auftrag des „Literary Hub“ (lithub.com) ihre 90 Lieblingsverse aus und kommentierten diese mit jeweils maximal 90 Wörtern. Entstanden ist bei einem Dichter, der die Idee von Zentralität und Wesenskernen verabscheute, zwar kein Best-of, aber eine Einführung in die Wunder von Ashberys Dichtung, die offenbar doch Spuren hinterlassen hat. Helen Vendler wählte die Zeile: „I tried each thing, only some were immortal and free.“ Frei übersetzt: Ich habe von allem gekostet, nur manches davon war unvergänglich und umsonst. Was ihr als perfekte Grabinschrift erschien, könnte es nun tatsächlich werden: Am Sonntag ist John Ashbery mit 90 Jahren in Hudson, New York, gestorben.

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