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Kämpferischer Einzelgänger. Jorge Semprún vor drei Jahren in Berlin. Foto: Mike Wolff

© Mike Wolff

Nachruf: Moralist und Maskenspieler

Emigrant ein Leben lang: Jorge Semprún war im Spanischen Bürgerkrieg und überlebte Buchenwald, in das er seit seinem ersten Roman immer wieder zurückkehrte. Die meisten seiner Bücher schrieb er auf Französisch - die Sprache seines Exils. Zum Tod des Jahrhundertschriftstellers

Er bestand wie kein anderer auf seiner Nichtzugehörigkeit. Trotz aller Vertrautheit, die man mit seinem Werk gewinnen konnte, und trotz der Öffentlichkeit, die er in mehreren Ländern fand, blieb Jorge Semprún jener existenziell Fremde, der nach Albert Camus immer einen Anderen in sich trägt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt zog er sich, so gut er eben konnte, aus allen äußeren Verpflichtungen zurück: Er wollte sich ausschließlich der Vollendung seines Werks widmen. Das ergab einen Wettlauf zwischen seinen exakt bestimmten Plänen und der verrinnenden Zeit: Er konnte ihn nicht gewinnen. Am Dienstag ist er mit 87 Jahren in seinem Pariser Haus gestorben.

In seinen Büchern hatte er sich einem erzählerischen Zeremoniell verschrieben. Sein Werk strahlt das Vertrauen aus, Erinnerung aus den Kältezonen des Vergessens zurückholen zu können. Es ist die symbolische Rettungstat eines Einzelgängers, der sich vor allem auf jene bezieht, die in Rauch aufgegangen oder in Sibirien verscharrt worden sind. Über viele Passagen hinweg sind diese Bücher als Totenwache zu verstehen.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nahm Semprún Abschied von Hegel und Marx, den Göttern seiner Jugend; er setzte sich mit Proust und Kafka auseinander, entzifferte seine Erfahrungen im Spiegel Goethes. Semprún hat als Buchenwald- Häftling Nr. 44 904 und schon zuvor unter der Folter in Auxerre mit den Deutschen die schlimmsten Erfahrungen in der Wirklichkeit und die strahlenden in ihrer Literatur gemacht.

Nach Buchenwald kehrte er seit dem ersten großen Roman „Die große Reise“ (1963) immer wieder zurück. Bis zu seinem zuletzt erschienenen „Der Tote unter meinem Namen“ (2001) ergibt sich daraus ein cantus firmus der unaufhörlichen Selbsterforschung des Gedächtnisses, der Verwandlung des Erlebten, der Deutung der Fragmente. Diese Bücher eines Souveräns unter den Zeitzeugen sind von anderen begleitet, die mit Attentätern, Spionen, Funktionären, Helden des Underground, Bildern der Kunstgeschichte, Tarnexistenzen, obsessiven Liebhabern, Schachfiguren der Ambivalenz bevölkert sind. Der Krimi als intellektuelles Muster war Semprúns zweite Leidenschaft. Das Krönungsspiel in dieser Hinsicht bot der Roman „Algarabía oder Die neuen Geheimnisse von Paris“, das Dschungelbild einer fiktionalen Wirklichkeit, die sich auf den Mai 1968 in Paris bezieht und dem Kolportageschinken Eugen Sues aus dem 19. Jahrhundert nachgeschrieben ist.

In Semprúns Biografie versammeln sich Grundfiguren: der Exilant, der Illegale, der Häftling, der Widerständler, der Kommunist, zu einem Leben im Ausnahmezustand. Als spanischer Emigrant und vor allem als französischer Schriftsteller, als Ehemaliger der Résistance, des Konzentrationslagers, der Kommunistischen Partei, der Klandestinität ist er, in vielen Masken und Verzeichnungen, Variationen und Reprisenbildern, ein bürgerlicher Repräsentant und ein Apostat zugleich. Das hat er auch in zahlreichen Drehbüchern bestätigt, die unter anderen von Alain Resnais („Der Krieg ist vorbei“ und „Stavisky“), Costa Gavras („Z“ und „Das Geständnis“) und Joseph Losey („Straßen nach Süden“) verfilmt wurden. Seine Existenz hat sich in Pseudonymen, angenommenen Identitäten und anderen sozialen Verfremdungen entfaltet.

Der am 10. Dezember 1923 in Madrid geborene spanische Großbürgersohn, der früh im Spanischen Bürgerkrieg mit der Familie ins Exil gehen musste, der Lagerinsasse, der Organisator des kommunistischen Untergrunds im francistischen Spanien, der Revolutionär, der Renegat, der Schriftsteller sind einzelne Benennungen für den Konfliktstoff, den diese Biografie durchmaß. Überdies bestimmt sich sein Werk durch seine europäische Ausstrahlung.

Weltläufige Distanz und sprachliche Grazie

Der Spanier hat fast alle seine Bücher auf Französisch geschrieben und wurde in seinem Exil- und Wahlland mit der Aufnahme in die Academie française geehrt. Im Gegensatz dazu blieb ihm die große literarische Ehrung in Spanien bis heute verwehrt. Er war drei Jahre lang unter Felipe Gonzalez spanischer Kulturminister. Die nachhaltigste Wirkung seiner Bücher hatte er jedoch in Deutschland, in dem er neben vielen anderen Auszeichnungen 1994 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.

Er hat, geradezu prophetisch, 1986 auf den Frankfurter Römerberggesprächen die deutsche Wiedervereinigung als Vorbedingung des europäischen Friedensprozesses gefordert. Er wies Deutschland als Handlungsort zweier totalitärer Systeme eine besondere europäische Aufgabe zu. Sein Lebensstoff durchmaß das Zeitalter der Ideologien, des Argwohns, der Verfolgung, des Terrors und gewann auf diesen Passionswegen der Angst, des Schmerzes, der Agonie und des Todes eine Zukunftserwartung, die sich auf den großen geschichtlichen Raum richtet.

Seine rund zwanzig Bücher erhalten sich die Möglichkeit, in den Abgründen und Niederungen des Lebens die Freiheit des ästhetischen Genusses zu wahren. Verse aus der europäischen Dichtung von Charles Baudelaire, García Lorca und Antonio Machado über Paul Celan bis Sergej Jessenin sind gegenwärtig, die Biografie wird gerahmt von einigen Meistergemälden der Kunstgeschichte. Gestalten aus der Literaturgeschichte wie Phantome einer anderen Welt wandern durch die Schreckenslandschaften.

Unnachahmlich ist der intellektuelle Sound dieses Schriftstellers, eine kombinatorische Energie: aus der Montage sprechender Zeitpunkte und zeichenhafter Zeitmarken entsteht ein dichtes Gewebe aus Erinnerung und Vorschau, viele Stimmen der Lebensgeschichte und der Traumbildnerei sammeln sich in einem durchmischten Präsens.

Von allen Wirren der Politik, von den Religionen des Totschlags, der Willkür des Terrorismus nicht zu unterwerfen, rettete dieser hoch gebildete Schriftsteller die Aura des Artisten. Diese Kunst, die auf einer weltläufigen Distanz der Kennerschaft, des intellektuellen Vergnügens, auf sprachlicher Kraft und Grazie beruht, erhält auch die Gewissheit, dass es moralische Würde gibt.

Viele literarische Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus werden vergilbt und die nationalsozialistischen Untaten in den klassizistischen Floskeln deutscher Gedenkredner untergegangen sein, wenn Jorge Semprúns Werk noch lange nicht vom Morbus der Verjährung bedroht ist. Der künstlerische wie moralische Glanz, der von der bisweilen geradezu bestürzend meisterlichen Technik dieses Erzählers ausgeht, wird seine Bücher am Leben halten.

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