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Kultur: Nachruf zu Lebzeiten

Rüdiger Schaper über das Verstummen des Walter Jens

Von den natürlichsten Dingen zu reden ist das Schwerste. Vom Tod. Der Weg dorthin wird mit dem Fortschritt der Medizin, was nicht immer ein humaner Fortschritt sein muss, durchaus länger. Ein Euphemismus wäre zu sagen: Das Hirn wirft auf den letzten Etappen Ballast ab, der Mensch vergisst sich selbst, ehe die Welt ihn vergisst. Demenz und Alzheimer sind Namen von Krankheiten, von Krankheitskomplexen, mit denen wir uns dramatisch zunehmend beschäftigen müssen – umgeben von einer Kultur, einem Kulturbetrieb, die auf Zerstreuung und die Anhäufung von vorübergehendem Wissen setzen.

Seit längerem weiß man, dass Walter Jens, einer der emblematischen Intellektuellen der Bundesrepublik, krank ist. Sein Sohn Tilman Jens hat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Krankheit des Vaters beim Namen genannt. Walter Jens leidet an Demenz. „Ich denke an den alten Mann in Tübingen, der nachts durchs eigene Haus irrt und sein Bett nicht mehr findet. Er hat die Orientierung verloren.“ Die Familie sagt: „Wir werden sein Leid nicht verstecken.“

Es handelt sich um einen Nachruf zu Lebzeiten, in gewisser Weise. Es ist ein Akt von Humanität, darüber zu sprechen und die Scham zu überwinden – bei einem Mann wie Walter Jens, dem die öffentliche Rede so viel bedeutet hat. Der Sohn schreibt in „Vaters Vergessen“ auch von der politischen Demenz der Generation des Vaters, Jahrgang 1923. Von Grass und Lenz und anderen, die die längste Zeit geschwiegen haben über ihre Jugend in der Nazizeit. „Die fatale Schweige-Krankheit, an der viele Köpfe zerbrachen“, so schließt der Sohn. Demenz als morbus teutonicus? Allein, Demenz macht keinen Unterschied nach Abstammung, Moral, den Taten eines Menschen. Die Generation von Jens und Grass aber ist die erste, für die die medizinische Möglichkeit eines langen Lebens zum Politikum wird, in der Verdrängung und Erinnerungsverlust schmerzlich zusammenfallen.

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