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Kultur: Nachrufe für die Zukunft

Essays und Reden des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész

LITERATUR

Annäherungen nennt Imre Kertész seine Essays, und diese Bezeichnung könnte man auf sein gesamtes Werk übertragen. Er steuert nicht auf eindeutige, theoretische Antworten zu, statt dessen will er Vergangenes erfahrbar machen. Die Erfahrung ist ein Hauptmoment für den ungarischen Literaturnobelpreisträger. So arbeitet er an einem riesigen Porträt des 20. Jahrhunderts, an einem Bild des Holocaust, denn „weil er stattgefunden hat, fällt die Vorstellung von ihm schwer.“ Oder: „Auschwitz hat eine völlig offen gelegte, eben deshalb geschlossene und inzwischen unantastbare Struktur.“

Entstanden sind die Essays in den vergangenen zehn Jahren, und obwohl sie unterschiedlichen Fragen nachgehen – sich mit der Rolle der Intellektuellen, den langen Schatten der Konzentrationslager, dem Holocaust als einer Form von Kultur oder dem Unglück des vergangenen Jahrhunderts beschäftigen – gehören die Themen eng zusammen. Absichtlich verweisen sie aufeinander, einzelne Sätze wandern sogar durch die Essays, tauchen beinahe wörtlich wieder auf. Zum Beispiel: „Ich bin Jude, doch ich kenne die jüdische Überlieferung kaum, und jüdischer Nationalismus liegt mir fern.“ Dieser Satz mit seinen drei Aussagen zeigt sich in den jeweils neuen Textzusammenhängen immer deutlicher und prägt sich ein, was schon deshalb vorteilhaft ist, weil man viele Sätze am besten auswendig lernen sollte. Dann hätte man so scheinbar einfache Gedanken parat wie: „Der Mensch besitzt die merkwürdige Gewohnheit, sich im Gegebenen häuslich einzurichten. Er zähmt sich die Dinge und Begriffe so wie seine Haustiere.“

Kertész sagt, dass alles, was er schreibe, „nur ein Nachruf sein“ könne. Aber wenn er gegen Nationalstaaten Stellung bezieht, wenn er über Demokratie und Machthunger spricht oder über bequeme Autoren, die die Vorlieben ihres Publikums zu kennen meinen, dann verbinden sich solche Überlegungen mit der Gegenwart. Und in seiner Nobelpreisrede, die man in diesem Band ebenfalls lesen kann, heißt es zum Schluß: „Über Auschwitz nachdenkend, denke ich paradoxerweise vielleicht eher über die Zukunft nach als über die Vergangenheit.“

Berühmt wurde Kertész nicht in Ungarn, dort stießen seine Themen jahrzehntelang eher auf Widerstand, so dass Deutschland, das Ausland zu seinem Erfolgsweg gehören. Die meisten Leser liest Kertész nicht im Original, und es hängt wohl auch mit diesem Umstand zusammen, dass im Essayband mehrfach von der Sprache die Rede ist. Mit dem Stichwort „exilierte Sprache“ verweist Kertész allerdings auf unseligere Bedingungen: „Der Schriftsteller des Holocaust ist überall und in allen Sprachen ein geistiger Asylant“.

In seinem Vorwort zu den 18 Essays hebt Péter Nádas einen verwandten Gedanken hervor. Kertész habe seine (ungarische) Sprache in einer totalitären Diktatur zu entwickeln begonnen, eine Sprache des Denkens, die im Ungarischen bis dahin nicht wirklich vorhanden war. Kertész hat (und das hat auch Nádas!) mitten in der Diktatur, inmitten von falschen, unehrlichen Sätzen, seine einleuchtende, niemals schwerfällige Sprechweise gefunden. Die Exaktheit seiner Sprache ist in den deutschen Übersetzungen wiederzufinden, die natürliche Leichtigkeit noch nicht.

Imre Kertész: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Vorwort von Péter Nádas. A.d. Ungarischen von Kristin Schwamm u. a. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003. 159 Seiten, 19,90 €.

Zsuzsanna Gahse

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