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Kultur: „Nacktheit macht mir Angst“

Vanessa Beecroft stellt unbekleidete Models im Museum aus. Ein Gespräch über Scham und Sexismus

Frau Beecroft, für Ihre Performance „VB 55“ schicken Sie 100 nackte Frauen in die Neue Nationalgalerie. Wird das eine sensationelle Fleischbeschau?

Ich hoffe, es wird eine tolle Performance. Wegen der Dimension der Nationalgalerie werden es wahrscheinlich sogar 120 Frauen. Die Performance ist größer als alles, was ich je gemacht habe. Ich arbeite erstmals mit Frauen zwischen 18 und 65, die alle möglichen Figuren haben und schwarze, rote oder blonde Haare.

Schwarz, rot, blond: sehr deutscharben.

Na ja, das hat mich inspiriert, aber es wird gar nicht auffallen. Ich bin vor allem glücklich darüber, dass sich so viele ältere, sehr durchschnittlich aussehende Frauen diesem Experiment öffnen. Ich finde sie sehr schön, aber es sind nicht unbedingt Models. Diesmal gibt es auch keine hohen Absätze, kein Make-up, keine Perücken.

Sie nennen Ihre Performances Selbstporträts. Warum?

Am Anfang dachte ich, ich repräsentiere alle Frauen dieser Welt. Da haben sich viele Frauen beschwert. Dann merkte ich, dass mein Werk mit meinen eigenen Ängsten und unterdrückten Gefühlen zu tun hat. Aber es geht nicht nur um mich. Die Hälfte der Performance bringen die Frauen mit. Ich gebe ihnen ganz knappe Regeln – nicht sprechen, nicht zu schnell bewegen. Den Rest machen sie selbst.

Was haben 120 nackte Frauen mit Ihren Ängsten zu tun?

Meine größte Angst ist Nacktheit. Ich zeige mich nicht gern nackt. Ich hasse es.

Gilt das auch bei Ihrem Mann?

Bei ihm ist es mir egal. Es geht mir um Nacktheit als Attraktion. Ich wünschte, es wäre egal, dass Frauen Brüste und Hüften haben. Ist es aber nicht. Wenn sich Frauen vor meinen Performances ausziehen, bin ich die Erste, die nicht weiß, wo sie hinschauen soll. Dann gehe ich raus.

Wie hat Ihre Magersucht Ihr Werk beeinflusst?

Ich war nie magersüchtig, aber ich habe die Krankheiten von Freundinnen miterlebt. Bei meiner eigenen Essstörung ging es um Essen, das ich für kontaminiert hielt: Ich aß kein Fleisch, keinen Käse, keinen Weizen. Ich war besessen von dem Thema, aber nie so dünn, dass ich ins Krankenhaus musste.

Sind Sie immer noch besessen?

Ja, sehr. Nicht von meinem Körper, ich bin jetzt alt, da ist es egal. Es geht um das, was ich zu mir nehme. Wenn ich einen Kaffee trinke, fühle ich mich vergiftet. Als ich schwanger war, bin ich dauernd geschwommen, um diese überschüssige Energie loszuwerden. Jetzt mache ich Yoga, sonst werde ich verrückt.

Sie nehmen Psychopharmaka. Wieso?

Weil ich ein regelmäßiges Familienleben will. Als Single konnte ich einfach melancholisch werden. Jetzt habe ich zwei Kinder, acht Monate und drei Jahre alt. Da ist es schöner, wenn ich mich gut benehme.

Was passiert denn ohne Tabletten?

Ich werde schnell sehr wütend, vor allem über meinen Mann. Alles muss immer in perfekter Ordnung und blitzsauber sein.

Auch Ihre Performances sind perfekte Skulpturen – bis die Frauen anfangen, in sich zusammenzusinken.

Dieser Moment, wenn die festgelegte Formation sich auflöst und zerbricht, das ist der Beginn meiner Ängste. Ich bin dann total angespannt und fürchte mich, weil ich nichts mehr kontrollieren kann. Die Frauen könnten sich hinlegen und einschlafen oder einfach abhauen.

Sie inszenieren eine Art Selbstversuch?

Wahrscheinlich. Ich mache dann Fotos, und die Performance beginnt.

Kritiker werfen Ihnen vor, Sie produzierten sexistische Bilder und setzten Frauen demütigenden Blicken aus.

Ich provoziere und will die Reaktionen sehen. Ich glaube auch, dass die Nacktheit diese Frauen stark macht. Aber ich bin nicht mehr ganz sicher, ob ich sie nicht doch erniedrige. Vielleicht müssen die Frauen für meine Performances auch verletzt werden. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich das alles tun muss. Es hat mit meinem Leben zu tun, mit irgendwas, das ganz tief vergraben ist. Aber darüber spreche ich nicht. Jedenfalls noch nicht.

Das Gespräch führte Constanze von Bullion.

Vanessa Beecroft, 35, ist gebürtige Italienerin und lebt als Performancekünstlerin in New York. Seit zehn Jahren erregt sie mit ihren „lebenden Skulpturen“ nackter Frauen Aufmerksamkeit.

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