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Kultur: Nächstes Jahr in Phantasien

Der Komponist Siegfried Matthus feiert 70. Geburtstag. Und in Weimar wird seine Oper „Die unendliche Geschichte“ uraufgeführt

Siegfried Matthus ist seit 40 Jahren dem Musiktheater verfallen. Der erste Opernversuch war in Karl-Marx-Stadt gerade bewältigt, als Walter Felsenstein ihn 1964 an die Komische Oper Berlin holte. Das war die Initialzündung für den Landwirtssohn aus dem ostpreußischen Mallenpuppen, der sich nach dem Studium bei Wagner-Régeny und Eisler als Komponist und Dramaturg im Wundertheater der DDR entwickelte. So entfaltete sich in ihm der genuine Dramaturg, als er sich nach einem Experiment mit Götz Friedrich und zwei Opern auf Texte von Peter Hacks entschied, seine Libretti selbst zu verfertigen: mit einer spezifischen Dramaturgie und einer gedanklichen Dialektik, die vertraute Stoffe neu machen. In diesem Sinn ist die theatralische Welt des Siegfried Matthus in seinen Spitzenwerken unerhört.

Lobet den Frieden!

Musikalisch Unerhörtes schwebt ihm dabei selten vor. Aber sein Ausborgen von Zitaten, seine Polystilistik, seine Clusterbildungen, seine Lyrismen, seine Klangfantasie zielen darauf, Botschaften mitzuteilen. Das kritische Befragen der Gegenwart hört niemals auf. Matthus will verstanden werden. Das Problem eines Luigi Nono, dem seine ästhetischen Kategorien heilig sind, stellt sich ihm nicht, weil er kein musikalischer Revolutionär ist. Auch seine Orchesterstücke sprechen von seiner dramaturgischen Begabung. Einer „Dresdner Sinfonie“ folgt später ein Dresden-Oratorium „Laudate pacem“, das aus Kontrasten lebt: Funkgespräche der Royal Air Force und Bachs d-Moll-Toccata. Oder die „Nachtlieder“, die mit biblischen Visionen – „wüste und leer“ – Heines „Denk ich an Deutschland“ kombinieren, dazu die Assoziation Harfe, Harfner, Künstler, Sänger (Dietrich Fischer-Dieskau): Verantwortung für die Erde wie in dem Paukenkonzert „Der Wald“. Grenzgänger zwischen den Welten, als DDR-Komponist Mitglied der Akademien Ost und West, nutzt er seinen Status, um an der Komischen Oper „Kammermusik im Gespräch“ zu halten. Mit dem Projekt „Kammeroper Schloss Rheinsberg“ dient er ab 1991 dem Nachwuchs: „Wir sind somit ein Opernstudio für die gesamte Bundesrepublik.“

Der Theatermann schreibt und schreibt. So mag es der Menge geschuldet sein, dass nicht fortwährend die Versprechen der bedeutendsten Werke eingelöst werden. 1982/84 entstehen „Judith“ und „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (mit 50 Aufführungen in vier Inszenierungen im ersten Jahr). Der Opernvision, die den Schlossbrand der „Cornet“-Handlung mit dem Gedenken an die Zerstörung der Dresdner Semperoper 1945 und dem „Dies irae“ verbindet, wächst die Aura eines Zeitstücks zu. Ebenfalls 1985 inszeniert Harry Kupfer an der Komischen Oper „Judith“, ein Werk, dessen Dramaturgie, Libretto und Musik nach Altem Testament und dem Drama von Hebbel zum Nachhaltigsten gehören, was Matthus gelungen ist: Im Duett singen Judith und ihr geliebter Feind Holofernes – der Mann, Bariton, aus dem Hebbel-Text, die Frau, Sopran, aus dem Hohen Lied: „Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebt.“

Lobet den Leser!

Heute feiert Siegfried Matthus seinen 70. Geburtstag. Es spricht für den Musiker und seinen Planungsinstinkt, dass auch über eine Novität aus seiner Werkstatt zu berichten ist. Eine Doppeltaufe der Oper „Die unendliche Geschichte“ am Ostersamstag in Trier und Weimar, Ring-Uraufführung genannt.

Die thüringische Uraufführung gerät durch das Deutsche Nationaltheater Weimar zu einer fulminanten Augenweide, die den beiden Verfilmungen von Michael Endes berühmtem Roman einen Schuss ironischer Würze voraus hat. Weniger Science fiction als spannende Direktheit. Die Musik von Matthus ist gefällig im besten Sinn, ohne sich anzubiedern. Sie begleitet uns zuvorkommend durch die Abenteuer des jugendlichen Lesers Bastian, der handelnd in die fiktive Welt einer gelesenen Geschichte eingreift. Das große Orchester wird meistens geringstimmig eingesetzt, raffiniert gefiltert, damit – vergleichbar dem Musical – das Wort sich durchsetzt. So umgibt das Englischhorn den Sopran des Atreju, eines Indianerjungen auf der Suche nach Rettung für sein Land Phantasien und dessen Kindliche Kaiserin. Auryn, ein Schlangenzeichen auf dem Buchdeckel, das jeden Wunsch erfüllt, klingt mit zartem Sopran, Zimbel und Celesta. Die Chöre, die das „Nichts“ beklagen, basieren auf dem Dies irae. Aus der Fülle der Figuren ragen Ygramul mit ihren vier Spinnenarmen wie ein Walkürenensemble und eine langsame wissende Uralte Morla hervor, die an Wagners langsame wissende Erda erinnert. Es gibt ein Buffopaar mit Fagottstakkato und dankbare Partien für tiefe Männerstimmen neben der Sprechrolle des Knaben Bastian.

Manchmal geht es Matthus mit seinem Werk für große und kleine Kinder wie Humperdinck mit „Hänsel und Gretel“: Aus dem Werwolf Gmork tönt ein Bassbariton in Heldenformat, der seriöse Oper macht. Dennoch ist die Partitur zum raffenden Libretto von Anton Perrey unterhaltsam anspruchsvoll. Unter Jac van Steen finden sich die Staatskapelle Weimar, Opernchor, Statisterie und Solisten zu einer gespannten Aufführung zusammen. Zum insgesamt vorzüglichen Ensemble gehören Marietta Zumbült als Atreju, Christine Hansmann als Morla, Theodor Carlson als Gmork und Mario Hoff als Sprecher der Kaiserin.

Zur Inszenierung ist jedoch vor allem dem Team Michael Schulz (Regie), Kathrin Brose & Corinna Gassauer (Bühne) und Martina Feldmann (Kostüme) zu gratulieren. Wie ein papiergeschnitzter Drache stürzt und fliegt, wie ein Felsenbeißer mit gigantischen Zähnen und ebensolchen Plattfußschuhen umgeht, wie fantastisch jeder Einwohner von Phantasien aussieht – das zelebriert eine Theaterlust erster Güte. Ein moderner Dreiklang aus Märchen, Pfiffigkeit und Fantasy.

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