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Kultur: Narren im Nebel

Malte Lehming folgt Amerikas Medien auf der Spur des Snipers Ein Rätsel, das gelöst wurde, beruhigt. Was der Mensch verstanden hat, kann er gedanklich ablegen.

Malte Lehming folgt Amerikas Medien auf der Spur des Snipers

Ein Rätsel, das gelöst wurde, beruhigt. Was der Mensch verstanden hat, kann er gedanklich ablegen. Damit ist er fertig. Offene Fragen dagegen zerren an seinen Nerven, Geheimnisse sind ihm unerträglich. Es muss doch einen Grund geben! Das ist der Stoßseufzer des Schlaflosen, der sein Grübeln nicht mehr abstellen kann. Wenn es sich um ein öffentliches Mysterium handelt, übernehmen die Medien das Grübeln. Sie verstärken es noch und schreien dessen Inhalte in Form von Gerüchten und Spekulationen hinaus.

Die Schreie klingen verzweifelt. Aber was sollen die Medien machen? Das Eingeständnis, ratlos zu sein, ist ihrer Natur zuwider. Drei Wochen lang hielten zwei Heckenschützen die Bewohner von Washington in Atem. Die ganze Welt nahm Anteil an dem Fall und gruselte sich mit. Alle fragten: Wer ist dieser grausame, unheimliche Scharfschütze? Es gab viele Theorien. War es gar eine neue Variante des AlQaida-Terrorismus? Schließlich setzte sich, genährt von dem Votum zahlreicher Experten, die Ansicht durch, es müsse ein relativ junger, weißer Einzelgänger sein, der sich gut in der Umgebung auskennt. Am Ende waren es zwei Schwarze, ein 17-Jähriger und ein 41-Jähriger, die von der Pazifikküste angereist waren. Die Rätsellöser hatten sich geirrt. Die Medienmacher waren von der Wirklichkeit der Narretei überführt worden. Doch sie können nicht anders.

Das lustvolle Herumgestochere im dichten Nebel ist ihr Geschäft. Jetzt gilt es, die Motive der beiden Täter zu ergründen. Der Ältere, John Allen Muhammad, war vor vielen Jahren zum Islam übergetreten. Aha, rufen die einen, mit dieser Religion stimmt etwas nicht! Nein, nein, entgegnen die anderen, die kaputte Familie ist schuld. Die Mutter von John Allen war früh gestorben, der Vater verschwand, der Junge wuchs beim Großvater auf, später heiratete er, setzte Kinder in die Welt, ließ sich scheiden, heiratete wieder, setzte wieder Kinder in die Welt, ließ sich wieder scheiden, trieb sich herum. Ach was, tönen die Dritten, es ist der Golfkrieg, der aus diesem Mann ein moralisches Monster gemacht hat.

Sie wissen es nicht. Die beiden Männer schweigen. Wäre es ein Veteranen-Problem, hätten im Nachkriegsdeutschland Tausende von potenziellen Serienmördern gelebt. Falls der Krieg die Menschen verdirbt, müsste ein Land wie Israel aus lauter Verbrechern bestehen. Also ist es vielleicht die unselige amerikanische Waffenfreiheit? Auch in Norwegen verfügt ein Drittel aller Haushalte über Feuerwaffen. Dort liegt die Mordrate allerdings zehnmal niedriger als in Amerika. Aber es muss doch einen Grund geben! Der Schlaflose wälzt sich hin und her. Ihn quält eine Ahnung: Vielleicht wollen die beiden nur töten, einfach so, sonst nichts.

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