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Religion als Richtschnur. Muslime beim Gebet in der Berliner Sehitlik-Moschee.

© dpa

Necla Kelek: Die suspekte Freiheit

Aufklärung ist nicht totalitär: Die Soziologin und Autorin Necla Kelek verteidigt in Berlin ihre Thesen zu Integration und Islam.

Von Caroline Fetscher

Schauen wir in ein Pamphlet, verfasst mit dem Furor des Fundamentalisten, vielleicht von einem Taliban. „Dreister, als es die Feministen tun, kann man der Wahrheit gar nicht ins Gesicht schlagen“, klagt der Mann. Die Behauptung, dass gebildete Frauen ihre Kinder besser aufziehen, als „natürliche Frauen“, sei einfach Unsinn, wettert er. Abschaffen, fordert der Autor, müsse man die höhere Schule für Mädchen, die Berufstätigkeit der Frauen, denn, so sein Argument, „was für den Männerkopf massive Anstrengung ist, das ist für den Weiberkopf Überanstrengung“. Wollte man die Kulturarbeit von Frauen verrichten lassen, „so wäre der Schade groß, der Nutzen klein“.

Nun, dieser Taliban ist lange tot. Er war ein Deutscher, hieß Paul Julius Möbius und praktizierender Arzt. Sein Werk „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“, dem die Zitate entnommen sind, erschien vor genau 110 Jahren in Leipzig, erwies sich als ziemlicher Renner und erreichte hohe Auflagen. Es hat auch Frauen gegeben, die Möbius erleichtert zustimmten – viel Leistungsdruck habe er von ihnen genommen, schrieben sie, tröstlich in ihrer traditionellen Position bestätigt.

Durchgesetzt haben sich diese Traditionen bei uns dann doch nicht. Nach zwei Weltkriegen, Westbindung und der Gründung der Europäischen Union prägen heute demokratische Verfassungen, Rechtsstaat, Schulpflicht und individuelle Freiheit die Staaten Europas. Weil sie in einem solchen freien Land lebt, sagt die Berliner Soziologin Necla Kelek, empfinde sie sich als „ein Glückskind“. Die zierliche Autorin mit dem langen dunklen Haar sagt das oft lächelnd. So auch am Freitagabend in Berlin Mitte, wo die Autorenbuchhandlung im Suhrkamp-Laden zur Debatte über Islam und Integration geladen hatte. Voll ist der kleine Saal, und die Wand hinter den Diskutanten schmücken, bis hoch an die Decke, die in allen Nuancen des Regenbogens leuchtenden Einbände der Suhrkamp-Taschenbücher, darunter Klassiker der Aufklärung von Adorno bis Habermas.

Nicht nur vor diesem symbolreichen Hintergrund wird Necla Kelek irritiert von der erstaunlichen Zahl der Widersacher, die sie auf den Plan gerufen hat. Leute, denen ihr Verfassungspatriotismus suspekt ist, Leute, die Keleks Bekenntnis zu Säkularismus und kritischer Erkenntnisfreude als Frontalattacke auf „den Islam“ lesen wollen, oder ihre Argumente sogar als „Aufklärungs-Totalitarismus“ denunzieren. Sie wünsche sich, fügt Kelek, das Glückskind, ihrer Aussage hinzu, dass alle ihre muslimischen Brüder und Schwestern auf der Welt dieselbe Freiheit genießen könnten. Minderjährigen Mädchen Kopftücher aufzuzwingen, das zum Beispiel gehöre nicht zur Freiheit. Für einen säkularisierten, reformierten, der kritischen Lektüre von Korantexten zugänglichen Islam streitet Kelek und keineswegs, wie eine empörte Stimme aus dem Publikum argwöhnte, für dessen Eliminierung.

Doch das kann Necla Kelek betonen, so oft sie will. Sie zieht heftigste Projektionen auf sich, so dass auch der Mitdiskutant Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen Fraktion im Berliner Rathaus, ihr zuruft, sie suche „immer nur den Schuldigen“ und sehe nie das Positive, etwa den Riesenfortschritt an der Rütli-Schule. Den sieht Kelek durchaus. Ihre Sorge gilt allerdings der islamisch-traditionalistisch geprägten Parallelgesellschaft in Deutschland, die sich gegen die emanzipatorische Erziehung von Mädchen und Jungen stemmt, und der die Mehrheitsgesellschaft mit falsch verstandener Toleranz begegne.

1957 in Istanbul geboren, wanderte Kelek mit ihren Eltern 1966 in die Bundesrepublik aus, löste sich hier von ihrer religiösen und gewalttätigen Familie und promovierte 2001 über die Bevölkerungsgruppe, aus der sie kommt. In dieser Community will Kelek Selbstreflexion wecken, mehr Kritikfähigkeit, Demokratieverständnis. Bestürzt ist die Aufklärerin, wenn muslimische Studenten in Deutschland jetzt etwa von „islamischer Wirtschaftswissenschaft“ sprechen: „Wo bleibt da die Erkenntnistheorie?“

Nur die Option der Kritik, ist Kelek überzeugt, eröffnet den Weg zu individuellem Denken und Kreativität. „Wenn ich auch beim Koran fragen darf, wer ihn geschrieben hat und warum.“ Das aber sei in weiten Teilen der islamischen Welt nicht gestattet. Tatsächlich stellen zum Beispiel die „Arab Human Development Reports“ der Uno regelmäßig fest, dass etwa in der gesamten arabischen Welt pro Jahr so viel Bücher aus Fremdsprachen übersetzt werden, wie im kleinen EU-Land Portugal.

Werner Schiffauer aber, Jahrgang 1951, Ethnologe und Islamwissenschaftler, sieht alles in Bewegung. Eben hat er seine Studie „Nach dem Islamismus“ vorgelegt (Suhrkamp, 2010), eine Ethnographie der umstrittenen islamischen Gemeinschaft „Milli Görus“ in Deutschland. Für den „klassischen Islamismus“ sei der Islam die Alternative zu West wie Ost, Kapitalismus wie Sozialismus gewesen, heißt es dort; für den „Postislamismus“ jedoch sei der Islam „eine Richtschnur, die die Suche nach sinnvollen Antworten anleitet und Maßstäbe setzt“.

Von innen her, so das optimistische Fazit des Feldforschers, reformiere sich der Islam. Überdies meint Schiffauer, seien die aktuell diskutierten Probleme der Integration bis vor zehn Jahren noch als soziale Fragen um Gastarbeiter, Randgruppen, Chancengleichheit verhandelt worden, nicht als religiöse.

Mit dem Prozess der europäischen Vereinigung sei ein neues Begehren nach einer „Definition des Anderen“ entstanden. Wenn wir alle „Europäer“ sind, wer ist dann der Andere? Auch wegen des 11. Septembers wäre „der Islam“ dabei sehr gelegen gekommen: „Wir“ sind die Nicht-Muslime, die sind die Anderen. Schiffauers Theorie hat etwas verlockend Plausibles. Befremdlich wird es, wo er beginnt von disziplinierten jungen Kopftuchstudentinnen zu schwärmen, und wo er Zweifel daran anmeldet, dass Demokratie und Aufklärung nur positiv wirken.

„Hatte nicht das demokratische England auch den Kolonialismus hervorgebracht?“, fragt Keleks Kontrahent rhetorisch. Attacken von Linken wie Rechten, denen Keleks Ansätze nicht gefallen, zielen inzwischen darauf ab, sie als „Zwangsbeglückung“ zu desavouieren und den gezielten Druck auf ideologische Enklaven als rassistisch getönten „Anti-Islamismus“ zu brandmarken. Absurd daran ist, dass Rassismus die Exklusion will, während sich Keleks Diskurs um Inklusion dreht, um Teilhabe und die Eröffnung neuer Räume. Es geht um Bevölkerungsgruppen, die Kindern, insbesondere Mädchen, die Teilnahme an Schulausflügen, dem Sportunterricht im Schwimmbad, Abitur und Studium oder die Ehe mit Partnern anderer Herkunft untersagen.

Aber muss Freiheit sein? Wenn muslimische Frauen freiwillig eine Ideologie akzeptieren, die ihre Zweitrangigkeit gegenüber Männern postuliert, warum sich einmischen?

Auch das fragen manche Kelek-Kritiker, als ginge es darum, das Pamphlet des Paul Julius Möbius in der Gegenwart und in neuem Gewand noch einmal zu verteidigen. Ende der fünfziger Jahre gründete sich übrigens der bis 1971 existierende „Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht“. Eine der aktiven Frauen hatte dazu mitgeteilt: „Verantwortung erwächst unserer Bewegung gegen die Gleichberechtigung der Frau aus der Sache selbst. Denn unser Bund wendet sich gegen eines der Symptome jener weltweiten Zerstörungswut von Werten, welche vor nichts halt macht.“ Gegnern demokratischer „Zwangsbeglückung“ könnte hier manches als Anregung dienen – als Anregung zum Denken.

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