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"Stop Motion" vom Nederlandse Dans Theater.

© Rahi Rezvani

Nederlands Dans Theater gastiert in Berlin: Das geht unter die Haut

Eine Tanzkompanie mit furioser Energie: Das legendäre Nederlands Dans Theater gastiert im Haus der Berliner Festspiele.

Von Sandra Luzina

Ein fast noch voller Mond steht leuchtend am Nachthimmel. Die Planetenkonstellation stimmt schon mal: Zum Auftakt seines viertägigen Gastspiels im Haus der Berliner Festspiele zeigt das Nederlands Dans Theater (NDT) „Shoot the Moon“, eine Arbeit seiner beiden HausChoreografen Sol León und Paul Lightfoot, die emotionale Ausnahmezustände ins Zentrum rückt.

15 Jahre ist das NDT, eines der führenden Ensembles für zeitgenössischen Tanz weltweit, nicht in Berlin aufgetreten. Die Rückkehr der fabelhaften Niederländer wurde denn auch mit großer Spannung erwartet, hat doch eine neue Generation von Choreografen und Tänzern die früheren Meister abgelöst. Viele Jahre war das in Den Haag ansässige Ensemble von den Choreografen Hans van Manens und Jirí Kyliáns geprägt worden; inzwischen ist es dem NDT gelungen, sich von innen heraus zu erneuern.

Paul Lightfoot und Sol León haben als Tänzer in der Junior-Company angefangen, avancierten zu Stars. Seit Ende der Achtziger kreieren die beiden, auch privat ein Paar, gemeinsamTanzstücke – eine für die Tanzszene ungewöhnliche kreative Partnerschaft. Seit 2002 firmieren die Katalanin und der Brite zudem als Haus-Choreografen der Kompanie, sie stehen für eine behutsame Modernisierung der Ästhetik. Bis heute haben sie über 40 Choreografien für das Ensemble entworfen; vor vier Jahren übernahm Lightfoot die künstlerische Leitung. Ihre reiche Bewegungssprache ist offen für neue Einflüsse; auch verstehen sie es, die Qualitäten der Tänzer ins beste Licht zu rücken.

Beim Berliner Gastspiel wird das gleich in „Shoot the Moon“ von 2006 mit Musik von Philip Glass deutlich. Die Drehbühne gibt Einblick in drei Zimmer mit schwarz-weißer Tapete, entfremdete Paare driften auseinander, zeigen sich die kalte Schulter – und können sich doch voneinander nicht lösen. Auf eruptive Ausbrüche folgen variantenreiche Pas de deux, die Liebe wird zum Gefängnis: Wie eingeschnürt wirken die Frauen, werden von ihren Partnern rabiat zusammengefaltet und herumgewuchtet. Und die Männer gehen schon mal die Wände hoch.

Sehnsüchtig blicken die Einsamen und Frustrierten durchs Fenster, auch die Tür zur nächsten Kammer scheint offen zu stehen. Doch das Liebeskarussell dreht sich zwar, aber die Annäherungen münden wieder und wieder in Zwang und Verzweiflung. Leiden mit Hingabe? Die Tänzer verliehen dem so expressiven wie eleganten Stück eine bezwingende Intensität.

Um Trauer und Schmerz geht es auch in „Stop-Motion“ (2014). Zur elegischen Musik Max Richters huldigen sieben Tänzer einer edlen Form der Melancholie. Immer wieder löst sich einer aus der Gruppe, nimmt auf seine Weise Abschied. Der schwarze Tänzer Prince Credell wirbelt mit den Füßen weißen Staub auf, bis sich seine Haut färbt. Um Transformation geht es – Credell macht daraus ein betörendes Ritual. Die atemberaubenden Zeitlupenvideos zeigen Saura, die Tochter des Choreografenpaars, als Engel der Trauer. Und wenn ein Turmfalke seinen Flug beginnt, scheinen auch den Tänzern Flügel zu wachsen. So beschwört „Stop-Motion“ in erlesenen Bildern die Vergänglichkeit, Mann und Frau finden gleichwohl Trost im Zusammensein.

Stacheliger dagegen „Thin Skin“, die neueste Kreation von Marco Goecke, eine Hommage an die Punk- und Rockikone Patti Smith, in der die Tänzer mit Fake-Tattoos auftreten. Goecke ist berühmt für seine hypernervösen Choreografien; die Tänzer fahren förmlich aus der Haut. Innere Regungen, verzerrter, verstümmelter Ausdruck: es dominieren die aggressiven Armbewegungen, Gesten der Angst und Abwehr. Die Körper scheinen sich in kleinste Artikulationen aufzulösen. Goecke folgt nicht strikt der Punk-Poesie von Patti Smith, er kreist um seine eigenen Manien. Aufregend an „Thin Skin“ ist vor allem die furiose Energie der Tänzer.

Das Publikum feiert die Rückkehr des legendären Nederlands Dans Theaters mit stürmischem Applaus. Sol León und Paul Lightfoot haben ihr Ensemble bestens aufgestellt – das NDT setzt immer noch Maßstäbe. So eine Compagnie wünschte man sich auch in Berlin.

Haus der Berliner Festspiele. Wieder am 30. und 31. Oktober, 20 Uhr

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