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Szene aus „Woke Up Blind“ des Choreografen Marco Goecke.

©  Rahi Rezvani

Nederlands Dans Theater: Macher und Marionetten

Eine Kompanie, wie sie Berlin fehlt: Das Nederlands Dans Theater begeistert mit vier Choreografien im Haus der Berliner Festspiele.

Von Sandra Luzina

Als das Nederlands Dans Theater (NDT) im Oktober 2015 nach 15-jähriger Abwesenheit erstmals wieder im Haus der Berliner Festspiele gastierte, wurde es von den Zuschauern enthusiastisch gefeiert. Diesmal mussten die Berliner nicht so lange warten. Am Dienstag präsentierte das Ensembel ein abwechslungsreiches Programm aus vier Choreografien, das die Zuschauer sehr unterschiedliche emotionale Landschaften durchwandern lässt. Das NDT folgt dabei keiner Einladung. Da es offenbar in kein kuratorisches Konzept passt, hat es selbst das Haus der Berliner Festspiele gemietet.

Kaum hat der ausdrucksstarke Jorge Nozal die Bühne betreten, wird er auch schon bejubelt. Nozal, mit nacktem Oberkörper, stößt fauchende Laute aus, zieht sich zusammen, als wolle er gleich das Innerste nach außen stülpen. In „Woke Up Blind“ von Marco Goecke (2016) verkörpern sieben Tänzer emotionale Ausnahmezustände. Goecke, Associate Choreographer beim NDT seit 2014, hat sich von der amerikanischen Songwriter-Legende Jeff Buckley inspirieren lassen. Buckley, der mit gerade mal 30 Jahren im Mississippi ertrank, hatte einen außergewöhnlichen Stimmumfang. In den Songs „You and I“ und „They way young lovers do“ schraubt auch seine Stimme in die Höhe, wirkt dabei ungemein verletzlich. Die Tänzer wirken wie hypnotisiert und zugleich befeuert vom betörenden Gesang. Goecke ist berühmt für seinen hypersensitiven, hypernervösen Tanzstil wie auch für seine androgyne Ästhetik. Statt sanft gerundeter Arme sieht man schneidend scharfe oder zitternde Bewegungen. Eruptiv ist der Tanz; die intensiven Empfindungen sprengen hier jede feste Form auf.

Anziehung und Abwehr

Die tänzerischen Liebesduette Goeckes – ob von Mann von Frau oder von zwei Männern – haben nichts Lyrisches. Man sieht keine Körper, die verschmelzen. Fahrigen Bewegungen greifen so ineinander, dass sie kurz eine Einheit bilden. Die Körper: verzogen und verdreht. So nah die Tänzer sich auch kommen, sie sind doch getrennt. „Woke Up Blind“ zeigt beides: Anziehung und Abwehr. Verlangen, das sich nie erfüllen wird.

Fast schon ein Einbruch des Realen ist danach „The Statement“ von Crystal Pite von 2016. Das Stück der Kanadierin, seit 2008 Associate Choreographer beim NDT, wirkt wie eine Fortschreibung von Kurt Joos’ expressionistischem Tanzdrama „Der grüne Tisch“. Auch Crystal Pite versammelt vier Entscheidungsträger in Businessuniform um einen Konferenztisch. Bei Joos wurde über Krieg und Tod verhandelt, hier scheint es um Machenschaften eines multinationalen Konzerns zu gehen. Das Stück basiert auf einem Skript des kanadischen Schauspielers und Dramatiker Jonathan Young. Auf verblüffende Weise gelingt es den Tänzern, diese aufgezeichneten Dialoge mit ihren hohlen und arroganten Managerphrasen in Bewegung zu übersetzen. Roger van den Bond ist derjenige, der von „oben“ geschickt wurde, um ein Stellungnahme zu fordern. Eine Schweinerei ist im Gange, die Lage eskaliert, nun geht es um die Frage, welche Abteilung die Verantwortung übernimmt, wer den Kopf hinhält. Den lässt Aram Hasler anfangs verzweifelt auf den Tisch sinken, sie ist am Ende ihres Lateins. Zunächst sieht es aus, als ob zwei Teams gegeneinander antreten. Doch dann spitzen sich die Konflikte innerhalb der eigenen Abteilung immer mehr zu. Pite veranschaulicht, wie Allianzen zerbrechen. Die vier gehen in den Clinch, ringen miteinander, versuchen buchstäblich, sich über den Tisch zu ziehen. Macker müssen Stärke markieren, doch Crystal Pite legt gnadenlos die Schwäche der Protagonisten bloß. Die verlieren immer mehr die Haltung und auch die Kontrolle über ihren Körper. Wie den Alphatieren alles entgleitet, wie sie sich verbiegen, plötzlich mit den Beinen schlottern: Das hat zum Teil eine böse Komik. Crystal Pite hat die Machtkämpfe prägnant choreografiert, auch wenn manche Szenen etwas zu turnerisch geraten. Als Systemkritik taugt „The Statement“ nur bedingt, aber die Choreografin macht deutlich, dass ihre Macher-Figuren nur Marionetten sind.

Alles zerfließt oder zerfällt

Herrlich surreal ist „The missing door“ von Gabriela Carrizo. Das Stück spielt in einem mysteriösen Hotel, ein Angestellter schrubbt den Boden, ein Mann döst. Die Figuren finden sich bald in einem Albtraum wieder. Trotz verschlossener Türen dringt das Unheimliche ein. Carrizo entzieht ihren Protagonisten den Boden unter den Füßen. Alles zerfließt oder zerfällt. Paare verfehlen sich, Gesten ersterben, Frauenkörper werden zusammengeklappt wie Objekte. Die Figuren verschanzen sich in ihrer Luxusbehausung, mutieren zu Zombies. Wunderbar, wie Gabriela Carrizo schwarzen Humor mit einer überbordenden szenischen Fantasie verbindet.

Paul Lightfoot und Sol Léon, die beiden Hauschoreografen des NDT, zeigen zum Abschluss „Safe as Houses“ (2001), das von dem „I-Ging“, dem chinesischen Buch der Wandlung, und der geistlichen Musik Bachs angeregt wurde. „Safe as Houses“ spielt mit Dualitäten. Schwarze Farbe rinnt an den weißen Wänden herunter. Drei Tänzer in schwarzen Anzügen begeben sich auf eine innere Reise. Hinter einer drehenden Wand kommen Tänzer in weißen Trikots zum Vorschein. Zu sehen sind Seelentänze und Seelenflüge, die variieren zwischen Ernst und Jubel. „Safe as Houses“: ein Gottesdienst für den Tanz. Lightfoot und Léon gelingt es, das Können der Tänzer ins beste Licht zu rücken. Und die verbinden eine exzellente Technik mit Ausdrucksstärke und Persönlichkeit. Der Abend überzeugte aber auch dank der großen stilistischen Vielfalt. Die Niederländer haben erneut bewiesen, dass sie zu den führenden Ensembles für modernen Tanz weltweit gehören – und einen besonderen Spirit haben. Eine Kompanie, wie sie Berlin fehlt.

Haus der Berliner Festspiele, bis 2.12, 20 Uhr (alle Vorstellungen ausverkauft)

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