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Kultur: Negativ bleiben

Die Sonne schien, als die deutschen Anhänger der „Occupy Wallstreet“-Bewegung am Samstag das Regierungsviertel in Berlin umzingelten. Eine riskante Unternehmung, da die Organisatoren – Attac, Campact, Ver.

Die Sonne schien, als die deutschen Anhänger der „Occupy Wallstreet“-Bewegung am Samstag das Regierungsviertel in Berlin umzingelten. Eine riskante Unternehmung, da die Organisatoren – Attac, Campact, Ver.di, Naturfreunde, Linke – keineswegs sicher sein konnten, ob die Kräfte des Protests ausreichen würden, das weiträumige Areal symbolisch in Besitz zu nehmen. Zum optischen Erfolg der Umzingelung trug der Umstand bei, dass die zahlreich erschienenen Polizisten und Polizistinnen überall dort, wo Lücken waren, für ein geschlossenes Bild des Demonstrationszugs sorgten. Sie waren die Jüngsten in den Reihen, die sie unfreiwillig füllten und gehörten zu jenen „99 Prozent“, für die die Protestierer sprechen.

Denn hier handelt es sich nicht um einen der klassischen Konflikte, nicht um jung gegen alt, links gegen rechts, arm gegen reich, sondern um einen Bürgerprotest gegen eine weltweit operierende Kaste, die das Vermögen und die Zukunft der „99 Prozent“ verwettet hat und immer noch nicht begreift, was sie angerichtet hat. Eben weil die Gesetze und die Regeln der westlichen Gemeinschaft offensichtlich nicht ausreichen, das ungeheuerliche Betrugs- und Enteignungsspiel zu stoppen, wird der abfällig so genannte „Druck der Straße“ unentbehrlich.

Wenn die Gesetzgeber und die zuständigen Institutionen es nicht schaffen, die gemeingefährlichen Spielführer auf den Finanzmärkten hinter Gitter zu bringen, können und sollen die Bürger immerhin für deren gesellschaftliche Ächtung sorgen. Bekanntlich handelt es sich bei den Asozialen in den Großbanken nicht um Kapuzenträger, die sich über jede böse Schlagzeile freuen, sondern um Leute, die nach der Anerkennung, ja nach der Liebe der Gesellschaft hungern.

Am Wochenende zeigte sich aber auch eine strukturelle Gefahr. Die amerikanischen Vertreter der Bewegung lassen sich vom angelsächsischen Pragmatismus leiten. In New York las ich auf einem Pappschild: „Capitalism doesn’t work“ – Kapitalismus funktioniert nicht. Eine simple Feststellung, die die Frage nach der Alternative offen hält. Vor dem Brandenburger Tor trug einer die Gleichung „Kapitalismus = Kriminalität“ herum. Im Beitrag einer griechischen Rednerin klang es dann gleich so, als wären Angela Merkel und eine Verschwörung der internationalen Finanzinstitutionen Schuld an der griechischen Misere. Kein Wort über die geschätzten 200 Milliarden griechischer Schwarzgelder in der Schweiz, über die hausgemachte Korruption und die groteske Aufblähung des griechischen Beamtenapparats.

Der Erfolg der Bewegung wird davon abhängen, ob sie wirklich die „99 Prozent“ vertritt und sich von den Heilsbotschaften politischer Trittbrettfahrer und Sekten freihält. Es genügt vollkommen, immer wieder anzuklagen, was auf keinen Fall so weitergehen kann. Sobald sie sich anmaßt, eine systemische Lösung der Probleme zu verkünden, wird sie sich überfordern. In den USA haben sich die Nobelpreisträger Paul Krugman und Josef Stieglitz der Bewegung als Berater empfohlen. Auch in Deutschland gibt es kundige und beredte Experten, die sich als Mitarbeiter und als Redner eignen.

Peter Schneider über Chancen, Gefahren der „Occupy“-Bewegung

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