zum Hauptinhalt

Kultur: Nervös war die Zeit Laboratorium des Geistes: Willi Jasper erkundet den „Zauberberg Riva“

Erst als der „Schwefelgeruch“ des Ersten Weltkriegs das im alpinen Hochgebirge gelegene Sanatorium erreicht, entlässt Thomas Mann Hans Castorp, den Helden des „Zauberbergs“, wieder ins Flachland. Mann hatte 1912 den Weg nach Davos auf sich genommen und dort seine Frau Katia besucht, die aufgrund eines – allerdings nur vermuteten – Lungenspitzenkatarrhs behandelt wurde.

Erst als der „Schwefelgeruch“ des Ersten Weltkriegs das im alpinen Hochgebirge gelegene Sanatorium erreicht, entlässt Thomas Mann Hans Castorp, den Helden des „Zauberbergs“, wieder ins Flachland. Mann hatte 1912 den Weg nach Davos auf sich genommen und dort seine Frau Katia besucht, die aufgrund eines – allerdings nur vermuteten – Lungenspitzenkatarrhs behandelt wurde. Der Schriftsteller wusste diesen Aufenthalt auch für sich zu nutzen. In der Welt der echten und eingebildeten Kranken hatte er sich „wunderliche Milieueindrücke“ verschafft, die ihm als Grundlage für den Roman dienten.

Willi Jasper stellt seinem „Zauberberg Riva“ die Vermutung voran, dass vor allem Katia Mann dazu beitrug, den Schauplatz des „Zauberbergs“ nach Davos zu verlegen, indem sie die Bedeutung ihrer Korrespondenz mit Thomas Mann während des Kuraufenthalts stets betonte. Bedeutungsvoller als der Ort ist für Jasper aber jene von Hans Castorp erträumte „mediterrane Gegenwelt“. Deren „tränenschimmernde Herrlichkeit“ erkennt er in dem am Gardasee gelegenen Kurort Riva, den er als „vibrierendes Laboratorium“ des europäischen Geistes darstellt.

Thomas Mann war nicht der Einzige, der sich dort Erholung und Anregung erhoffte. Als er 1901 erstmals in das von Christoph Hartung von Hartungen 1888 gegründete Sanatorium kam, war ihm Riva bereits durch die Schilderungen seines älteren Bruders Heinrich bekannt. Auch dieser bediente sich hier großzügig für sein Werk. Fortan lieferten sich die Brüder manches Streitgespräch, mitunter gar im Ruderboot. Und die Familie von Hartungen, die auch privat ein enges Verhältnis zu den Manns pflegte, wurde Zeuge der Dramen innerhalb dieser Schriftstellerdynastie. So suchte auch Mann-Schwester Carla hier vergeblich ihren Seelenfrieden, ehe sie sich 1910 das Leben nahm. Das ewig zerrüttete Schriftstellerehepaar Hermann und Clara Sudermann hoffte in Riva, wieder zueinander zu finden. Sigmund Freud lernte hier den im Vergleich zum Tiroler Rotwein weniger derben Weißwein schätzen, Heinrich Mann dagegen eher die Diskretion der Sanatoriumsverwaltung in Bezug auf Damenbesuch. Menschlich hatten seine Affären oft verheerende Folgen, literarisch waren sie, wie sein Biograf Jasper eindrücklich beschreibt, meist produktiv. Der Dichter Christian Morgenstern wiederum starb – nachdem er seinem Meister Rudolf Steiner durch halb Europa gefolgt war – im nahen Meran in den Armen seines Arztes Christoph Hartung von Hartungen an den Folgen der Tuberkulose. Da das Sanatorium keine Tuberkulosekranken aufnahm, hatte ihn der Arzt separat behandelt. Der 1945 geborene Jasper, der bis 2010 deutsch-jüdische Literaturgeschichte in Potsdam lehrte, verdichtet solche Geschehnisse mit viel Sachkenntnis, Feingefühl und ohne Fußnoten vor dem Hintergrund der Familiengeschichte der Ärztedynastie Hartungen zu einem Essay von rund 270 erfrischend leicht zu lesenden Seiten.

Auch wenn er es sich in vielen Fällen nicht nehmen lässt, die dargestellten Zusammenhänge über ihren Rivaer Rahmen hinaus zu schildern, schlägt er immer wieder den Bogen zu den Sanatorien der Familie. Damit liefert er endlich eine deren Bedeutung entsprechende Beschreibung und eröffnet zugleich einen einmaligen Einblick in die Literaturproduktion eines ganzen Zeitalters. Stets hat Jasper auch einen Blick für die Komik mancher Episode. Wenn er beschreibt, wie Kafka hier einen seltenen Augenblick des Glücks erlebte, wird der einstige Zauber des Ortes besonders deutlich spürbar.

Jasper verschweigt nicht, dass die Gegend am Gardasee auch eine andere als die anmutige Seite hat, die schon Goethe, Heine und Nietzsche ins Schwärmen brachte. 1859 hatte mit der Schlacht von Solferino der erste „moderne Krieg“ stattgefunden, bei dem 30 000 Menschen an einem einzigen Tag ihr Leben verloren. In der Folge beruhigte sich die Lage nur an der Oberfläche. Darunter trieb man militärische Stollen ins Gebirge; der Landstrich wurde endgültig zum Spielball zwischen der zerfallenden Habsburger Monarchie und dem jungen Italien.

1940 erklärte der nun im amerikanischen Exil lebende Thomas Mann, dass er mit dem „Zauberberg“ das „innere Bild“ der Vorkriegsepoche habe wiedergeben wollen. Das „nervöse Zeitalter“ war bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende. Angesichts des millionenfachen Sterbens auf den Schlachtfeldern erschienen „Zivilisationsleiden“ wie Neurasthenie und Tuberkulose, die hier behandelt wurden, nur als marginal.

Willi Jasper: Zauberberg Riva. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 271 Seiten, 19,90 €. – Der Autor stellt sein Buch am Montag, den 9. Mai, um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße vor.

Moritz Reininghaus

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false