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Wildwuchs und bewegte Form. Jackson Pollocks Gemälde „Cloaking Movement“ von 1946.

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Nervöse Börsenmärkte: Solange die Musik spielt, muss man tanzen

Seit zwei Wochen fallen und steigen die Börsenkurse mit rasender Geschwindigkeit. Wo bleibt da die Vernunft?

Wer in den vergangenen Wochen die Börsenkurse verfolgt hat (und man entkam ihnen kaum), dem konnte schwindlig werden. Zum Beispiel der Dax: Innerhalb von zwölf Tagen stürzte er um mehr als 25 Prozent ab, am letzten Donnerstag ging es plötzlich wieder um acht Prozent nach oben. In der Nacht zu Freitag stiegen auch in New York die Preise und tags darauf in ganz Europa. Betroffen waren nicht nur die Aktien. Bewegung gab es in der Folge auch beim Goldpreis, beim Öl und bei den Staatsanleihen. Würde man die Kurven abzeichnen und in Beziehung zueinander setzen, würde das aussehen wie ein Bild von Jackson Pollock. Ein großes Durcheinander aus scheinbar willkürlich dahingeklecksten Linien.

Dass Börsenkurse im Zickzack verlaufen, war schon immer so, nicht anders als Konjunkturkurven oder ein Geschäftsklimaindex. Eine Weile läuft es gut, dann geht es wieder bergab. Der Absturz der vergangenen Wochen war sanft, verglichen mit dem Schwarzen Freitag von 1929. Damals fiel die Wirtschaft in große Depression. Dies ist nicht umsonst ein Wort aus der Psychologie.

Märkte sind Stimmungsbarometer, und Stimmungen schwanken. Zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Zweifeln und Zuversicht. Je höher man klettert, desto tiefer kann man fallen. Das ist im Handel nicht anders als in der Liebe, schließlich findet beides zwischen Menschen statt. Allein das Tempo nimmt zu.

Die Geschwindigkeit gehört zum Handel wie die Langsamkeit zum Yoga. Das fängt bei den Rolltreppen an. In Berlin, der Stadt der Arbeitslosen und der Lebenskünstler, braucht man schon mal eine Minute, um zu einem U-Bahngleis hinabzufahren, wenn es eine lange Treppe ist. In der Bankenstadt Frankfurt dauert es nur halb so lange. Wer Zeit zu verschenken hat, stellt sich an die rechte Seite, damit die anderen links an ihm vorbeiziehen können. Die Börsensprache ist reich an Phrasen, und eine der meistzitierten lautet: Zeit ist Geld.

Nehmen wir an, wir besäßen einen Dollar. Ein Devisenhändler gibt uns dafür 70 Eurocent. Ein paar Minuten später fällt der Kurs, der Dollar ist jetzt nur noch 69 Eurocent wert. Wir tauschen die 70 Eurocent zurück und kriegen dafür einen Dollar und einen Cent, haben also einen Cent gewonnen.

Hätten wir das vorher geahnt, hätten wir natürlich gleich für 100 Dollar eingekauft. Dann betrüge unser Gewinn schon einen ganzen Dollar. Noch besser wäre das Geschäft gelaufen, hätten wir uns 100 000 Dollar geliehen, und sie alle in Euro umgetauscht. Den Kredit müssten wir zurückzahlen, bleiben würden uns 1000 Dollar, verdient in ein paar Minuten, abzüglich der Zinsen. So arbeiten die Hedgefonds.

Ihre Leute beobachten die Börse und spekulieren, mal auf steigende, mal auf fallende Kurse. Warum sie sich bewegen, ob in Ägypten der Diktator stürzt oder in Japan die Erde bebt, ist ihnen egal. Wichtig ist nur, im richtigen Moment zu handeln. Denn wenn die anderen Marktteilnehmer genauso schlau sind, und alle den Euro gleichzeitig verkaufen, wechselt der Kurs schnell die Richtung. Und am Ende steht man da, ohne Gewinn, aber mit einem Haufen Schulden.

Lesen Sie auf Seite zwei, warum es kein Wunder ist, dass alle so nervös sind.

Kein Wunder, dass alle so nervös sind. Man stelle ihn sich einmal vor, diesen Händler, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, im 58. Stock, in New York oder in Tokio, aber das Fenster mit dem Blick auf die Straße ist weit weg, der nächste Kollege sitzt nur einen Meter weiter, sehen können sie einander nicht, denn um jeden von ihnen sind fünf Computerbildschirme herumgebaut, wie eine Wand, und darüber laufen die Zickzackkurse. Und die Nachrichten.

Angela Merkel hat gerade mit Griechenlands Premierminister Georgios Papandreou telefoniert, schreibt Reuters. Es ist eine Eilmeldung, farbig markiert. Für den Händler ist das ein Signal. Er weiß zwar nicht, wie man den Namen Papandreou richtig ausspricht. Wahrscheinlich war er auch noch nie in Griechenland. Er dachte dabei immer an Sonne, Strand und Meer. Doch die Bilder, die er parallel bei CNN sehen kann, von den wütenden Demonstranten und den streikenden Taxifahrern, lassen sein Herz schneller schlagen. Merkel telefoniert mit Papandreou, denkt er. Lässt sie ihn fallen, oder gibt sie ihm Kredit? Retten sie den Euro? Steigt dann der Kurs? Soll ich kaufen oder verkaufen?

Wenn jetzt sein Smartphone klingelt und einer sagt, er habe aus sicherer Quelle erfahren, dass die Europäische Zentralbank die Italiener aufgegeben hat, ist es um seine Fassung geschehen. Er wird sein Depot aufrufen, die italienischen Staatsanleihen markieren, die Aktien vorsichtshalber gleich mit, denn wenn der Staat stürzt, sind die Banken mit dran und als nächstes die Industrie, und er drückt auf „sell“.

Er hätte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie wahrscheinlich es ist, dass Italien oder Spanien wirklich pleitegehen. Keine Zeit, die Bilanzen der Unternehmen zu studieren und zu dem Schluss zu kommen, dass die Aussichten vielleicht gar nicht so schlecht sind. Keine Zeit, sich zu fragen, was er mit seinem Knopfdruck auslöst, was passiert, wenn die Regierungen den Investoren immer höhere Zinsen für ihre Anleihen versprechen müssen. Ob er dann mitverantwortlich wäre für die nächste globale Finanzkrise. Es wäre ihm egal. Er hätte Angst.

Angst, dass er der letzte ist, der verkauft, dass er den schlechtesten Preis von allen erzielt, dass er am Ende des Jahres von allen Kollegen den niedrigsten Bonus erhält, oder schlimmer noch: dass er seinen Job verliert und seine Freundin ihn verlässt, weil er die Poolheizung abstellen muss.

Der ehemalige Chef der Citibank, Chuck Prince, hat die Nervosität der Märkte in einem Interview einmal verglichen mit dem Kinderspiel „Die Reise nach Jerusalem“. Wenn die Musik aufhört, muss man sich einen Stuhl suchen, denn es gibt nicht genügend für alle. Wer sich zu früh setzt, fliegt raus, aber wer am Ende keinen Stuhl mehr findet, hat verloren. Als Prince das sagte, im Jahr 2007, haben sie an der Wall Street noch kräftig mit Immobilienkrediten gezockt.

„Solange die Musik spielt, muss man tanzen“, sagte Prince. Dann kam die Krise. Und der Einbruch. Danach rannten die Kinder eine Weile lang in die andere Richtung. Die Kurse schnellten hoch. Aber es war nur eine gefühlte Sicherheit. Die Schulden der Griechen und die der USA sind nicht vom Himmel gefallen, es hat sich bloß lange keiner getraut, als erster Stopp zu rufen.

Lesen Sie auf Seite drei, wie die Nervosität wieder alle ansteckt.

Jetzt hat die Nervosität sie wieder alle angesteckt, die Medien, die Banken, die Kleinanleger und die Politik. Überall herrscht gespannte Aufmerksamkeit, die sich jederzeit entladen kann. In einer solchen Atmosphäre ist es leicht, Gerüchte zu streuen, die sich heute nicht mehr mündlich wie im Lauffeuer verbreiten, sondern bei Facebook. Da ist wieder die Analogie zur Liebe. Ist das Misstrauen erst einmal da, reicht ein unbedachtes Wort, um die Katastrophe auszulösen. Das war zu allen Zeiten so. Vor dem Alleinsein hat jeder Angst.

Und wo soll es noch herkommen, das Vertrauen? Wir wechseln alle paar Jahre den Job, die Stadt, den Freund. Morgens ein Meeting in Brüssel, abends Strategiebesprechung in Schanghai, wo dann schon wieder morgen ist. Die Globalisierung hat die Welt nicht nur beschleunigt, sie hat sie vergleichzeitigt. Am Flughafen schnell noch 20 E-Mails lesen, noch schneller antworten, dazwischen die Entscheidung treffen. Was sind solche Entscheidungen wert?

Wir haben keine Zeit, einander Fehler zu verzeihen und zu lernen, denn vorher sind wir schon wieder getrennt. Manchmal verbessert man sich, und manchmal verschlechtert man sich, manchmal ist Krise und manchmal nicht. Hausse, Baisse, Hausse: Heute sorgen wir uns um die Arbeitslosenzahlen und übermorgen um den Fachkräftemangel, aber wenn es das nächste Mal so weit ist, haben wir schon wieder vergessen, wie es war und was man dagegen tun kann.

Befeuert wird das Tempo durch Mobilfunk und Internet, durch Computer, die sich so programmieren lassen, dass sie automatisch Aktien verkaufen, wenn die Kurse eine vorher definierte Grenze unterschreiten. High-Frequency-Trading nennt man das, und weil hier Mikrosekunden über Milliardengewinne entscheiden, bauen die Händler ihre Rechenzentren möglichst nah an die Börse heran, damit die Länge des Datenkabels den Handel nicht im entscheidenden Moment, der kürzer ist als ein Wimpernschlag, verpatzt. Die High-Frequency-Trader sorgen dafür, dass eine einmal eingesetzte Kursbewegung noch stärker ausfällt als ohnehin.

Kann man den Markt wieder entschleunigen, das Risiko begrenzen? Soll man sich das wünschen? Man bedenke: Als die Eisenbahn erfunden wurde, hatten die Menschen Angst, das hohe Tempo würde Gehirnkrankheiten verursachen. Der Ökonom John Maynard Keynes hat schon in den dreißiger Jahren gefordert, Sand in das Getriebe der Finanzmärkte streuen. Sein Schüler James Tobin hat die Transaktionssteuer erfunden, eine Abgabe auf kurzfristige Spekulationsgewinne, die das Zocken teurer und damit uninteressanter macht.

Das wäre ein bisschen so, als würde man den Computern den Stecker rausziehen. Eine verlockende Idee. Die Sucht nach dem Gewinn und die Angst vor dem Verlust heilt man damit nicht. Aus den Zickzack-Kurven würden keine Geraden. Nicht die Computer sind nervös. Nervös ist der Mensch.

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