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Leben in der Übergangsgesellschaft. Shermin Langhoff vor ihrer kleinen, großen Bühne.

© Gorki/Esra Rotthoff

Neue Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Berlin: Shermin Langhoff will ein radikal zeitgenössisches Theater

Mut zur Gegenwart: Das Maxim-Gorki-Theater ist die kleinste Staatsbühne Berlins. Jetzt spielt hier eine junge, international geprägte Truppe. Ein Gespräch mit der neuen Intendantin Shermin Langhoff.

Frau Langhoff, Sie haben das Deutsche Historische Museum und die Humboldt-Universität als Nachbarn, dem Maxim-Gorki-Theater gegenüber liegen die Staatsoper Unter den Linden und die preußische Großbaustelle von Schloss und Humboldtforum. Eine ziemlich einmalige Location, selbst für Berliner Verhältnisse. Fühlen Sie sich erdrückt?
Im Gegenteil. Wenn man sich diese Tonnengewichte näher anschaut, erscheint vieles nicht mehr ganz so heilig. Nehmen Sie nur die Neue Wache mit ihrer Kopie der Pietà von Käthe Kollwitz, die der damalige Bundeskanzler Kohl zum Mahnmal für alle Ermordeten des Zweiten Weltkriegs umwidmen wollte, die Soldaten eingeschlossen. Nein, das facht eher den Mut an, Neues zu erzählen, Neues zu fragen. Für mein Empfinden gibt es heute viel zu wenig kritische Einmischung von intellektueller Seite. Dazu möchte ich ermuntern.

Verstehen wir Sie richtig: Auch die Kulturszene in Berlin wirkt, wie der Rest der Republik, ein wenig sediert?
Sicher passiert viel formal Entgrenzendes, auf verschiedenen Festivals, im Offbereich, im Rahmen der gegebenen Ressourcen auch an dem einen oder anderen Stadt- und Staatstheater. Aber nicht nur im Theater, sondern auch in Ausstellungen frage ich mich oft: so what? Worum geht es, was soll wem erzählt werden? Es gibt für uns sicher genug zu tun.

Was für ein Ort soll das Gorki unter Ihrer und der Leitung Ihres Ko-Intendanten Jens Hillje werden?
Ich habe ein Zitat der Kollegen gefunden, die vor 200 Jahren hier im Haus die Singakademie gegründet haben. Das konnte ich eins zu eins in unser Programm übernehmen. Der Direktor Carl Friedrich Zelter schrieb damals: „Jeder Fremde und jedes hinzutretende Mitglied findet darin etwas, wo die Tugend gern verweilt. Aufmerksamkeit, ohne sichtbare Anstrengung, Schönheit ohne Vorzug, Mannigfaltigkeit aller Stände, Alter und Gewerbe ohne affektierte Wahl, Ergötzung an einer schönen Kunst ohne Ermüdung, jede Vermischung von Geschlechtern, gleich einem Blumengarten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, oder?

Allerdings müssen Sie den Garten von Grund auf neu bestellen. Sie konnten von Ihrem Vorgänger Armin Petras kein Stück übernehmen, fast alle Schauspieler sind gegangen. Das ist eine einmalige Situation. Wie funktioniert eine Theaterneugründung in so kurzer Zeit?
Tatsächlich hatten wir statt der zwei Jahre Vorbereitungszeit, die bei einem Intendanzwechsel üblich sind, nur eines. Normalerweise findet man einen Stock von zehn bis 20 Stücken vor, auf den man baut. Dem war nicht so. Aber das birgt natürlich auch eine Chance. Sowohl was das Ensemble betrifft, das wir komplett neu denken mussten und wollten. Als auch, was die Programmierung angeht. Vieles an Titeln, Thesen und Temperamenten wird schon zur Eröffnung sichtbar sein. Aber wir betrachten die fünf Jahre, für die wir unterschrieben haben, als Strecke für unsere Aufbauarbeit.

Immerhin starten Sie mit einem höheren Etat als der Kollege Petras. Sie bekommen das Geld, das ihm verwehrt blieb.
Das stimmt nicht. Tatsächlich bekommen wir einmalig 400 000 Euro mehr, damit wir unseren kulturpolitischen Auftrag erfüllen und vier zusätzliche Repertoire-Stücke produzieren können. Diese Mittel werden nur für die Eröffnung bewilligt. Richtig ist, dass dem Haus 400 000 Euro pro Jahr fehlen. Von den 9,8 Millionen Euro, die das Gorki an Zuwendungen erhält, bleiben nur 600 000 Euro für neue Inszenierungen, das ist der Öffentlichkeit oft schwer zu vermitteln. Der Rest fließt in 160 Arbeitsstellen, zu denen natürlich auch künstlerische zählen, sowie in den Unterhalt des Hauses, der Probenräume und des Spielbetriebs.

Welche Rolle spielt der Konkurrenzgedanke bei dem Versuch, dem Haus ein neues Profil zu geben?
Meine Erfahrung auch als Zuschauerin ist, dass nicht so sehr Konkurrenz in Berlin das Geschäft belebt, sondern dass es einem Haus dann gut geht, wenn alle spannende Dinge machen und es insgesamt ein größeres Interesse für Theater gibt. Deswegen arbeite ich wirklich nicht aus dem Konkurrenzgedanken heraus, im Gegenteil: Es gibt ein paar Theatergesetze, die ich bereit wäre zu brechen, wenn es auch die Kollegen wollen. Ich sehe zum Beispiel nicht, dass ein freier Regisseur nur an einem Haus arbeiten kann, weil es sich dadurch profiliert.

Was ist das Spezifische, das am Gorki ab November gesucht wird?
Es ist sicherlich, dass wir den Versuch einer ernsthaften Öffnung auf allen Ebenen unternehmen. Öffnung hin zu einer Stadtgesellschaft, die wir diverser wahrnehmen, als sie bisher auf den Bühnen verhandelt wird. Mit einem Ensemble, für das wir Menschen gewonnen haben, die mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Biografie, gegebenenfalls auch den Geschichten dazu auf der Bühne stehen können und wollen. Dafür haben wir 17 feste und 17 freie Schauspielerinnen und Schauspieler gewonnen, die diese Stadt in ihrer kulturellen, künstlerischen und ethnischen Vielfalt beackern können.

Stammen die überwiegend aus Berlin?
Insbesondere unter den Freien gibt es sehr viele, die in Berlin leben, das hat auch ökonomische Hintergründe. Im festen Ensemble gibt es drei gebürtige Berliner und einige, die hier aufgewachsen sind. Über die Hälfte kommt aber aus anderen Städten, die Herkunftsorte reichen von Norderney bis Bayern. Wir haben die Kollegen von verschiedenen Theaterstationen geholt: aus Bonn Falilou Seck, aus Bochum Dimitrij Schaad, aus Düsseldorf Till Wonka, Aleksandar Radenkovic, Taner Sahintürk und Mareike Beykirch, aus Chemnitz Bernhard Conrad.

Klingt nach Fußballmannschaft.
Sahintürk ist tatsächlich fast Bundesligaspieler geworden und hat sich dann doch für Theater entschieden. Ich hoffe, er bereut es nicht! Aber die Frage nach Öffnung betrifft natürlich nicht nur das Ensemble, sondern setzt sich in der Programmsuche fort. Wir haben zwar kein Motto für die Spielzeit, verhandeln aber das Thema Übergangsgesellschaft, die Frage nach Umbrüchen. Damit verbunden die Frage: Wie sind wir geworden, was wir sind? Aber auch: Wer wollen wir künftig sein?

Interkulturelles Stadttheater.

Neben den türkischen fallen die slawischen Namen im Ensemble auf.
Wir fangen ja auch mit einem russischen Wochenende an. Sie sehen, wir fühlen uns der Geschichte des Gorki verpflichtet, das 1952 in der DDR als Haus neuer deutscher und sowjetischer Dramatik gegründet wurde, hier sollte am neuen Menschenbild gearbeitet werden. Aber im Ernst: Das hat wieder viel mit dieser Stadt zu tun. Eine Marianna Salzmann, die Hausautorin wird und das Studio leitet, hat einen jüdisch-russischen Hintergrund, aber wir fragen eben nicht: Woher kommt die? Sondern die schreibt einfach spannende Geschichten über sich und ihre Generation heute in Deutschland. Wir wollen ja farbenblind werden, irgendwann.

Aber hoffentlich nicht grau. Hat in Ihren Augen die Intendantin Karin Beier in Köln Vorarbeit geleistet für dieses Projekt eines interkulturellen Stadttheaters?
Das Ansinnen der künstlerisch von mir sehr geschätzten Kollegin war erst mal sehr richtig und spannend. Weniger schön fand ich, dass die meisten der am Anfang protegierten und gezeigten Kollegen verschiedener Herkunft, die das interkulturelle Ensemble ausmachen sollten, dann auf der Bühne kaum zu sehen waren. Schon gar nicht in Hauptrollen. Und dass die Ursache dafür nicht etwa in der Gesellschaft oder der eigenen Programmpolitik gesucht wurde, sondern man behauptete, die Kollegen wären nicht gut genug oder hätten nicht gepasst.

Jetzt müssen Sie beweisen, dass es doch funktioniert.
Meine Herangehensweise ist anders. Ich suche nicht nach Migrationshintergründen in diesem Land und lasse die Leute dann vorsprechen. Was auch entscheidend ist: Wir haben über die Regisseure besetzt, mit denen wir arbeiten. Nurkan Erpulat, Sebastian Nübling und auch Yael Ronen werden am Gorki als Hausregisseure prägende Handschriften sein. Sie waren an der Ensemblebildung maßgeblich beteiligt.

Manche glauben, Shermin Langhoff wird am Gorki die Fortsetzung des postmigrantischen Ballhaus Naunynstraße mit anderen Mitteln betreiben. Ist das der Plan?
Warum sollte man sich scheuen, erfolgreiche Konzepte weiter zu denken? Das Postmigrantische war von Anfang an ein Postulat, um die Theaterszene ein bisschen aufzumischen. Ein wenig ist uns das sicher gelungen. Aber vor allem ist am Ballhaus sehr viel Arbeit im Sinne von Nachwuchsförderung geleistet worden. Damit haben Stadt- und Staatstheater per se große Schwierigkeiten. Deswegen halte ich eine Zusammenarbeit für wichtig, nicht nur mit dem Ballhaus Naunynstraße, wir sind auch offen für andere Theater.

Was wird in zehn Monaten mit dem Maxim-Gorki-Theater passiert sein, am Ende Ihrer ersten Spielzeit?
In zehn Monaten haben wir nicht null, sondern zehn Repertoirestücke. Neben den vielen deutschsprachigen Stammbesuchern gibt es viele englischsprachige Menschen im Publikum , viele Touristen, weil wir ab der zweiten Vorstellung alles englisch übertiteln. In zehn Monaten hat sich das Studio als Diskurs- und Diskoraum etabliert, an dem sich eine Jugend trifft, die Politik und Kunst entgrenzen möchte. In zehn Monaten weiß man, dass das umgedreht geschriebene R in Gorki „Ja“ ausgesprochen wird und im Russischen „Ich“ bedeutet. Das alles kann geschehen und vielleicht ein bisschen mehr.

Das Gespräch führten Rüdiger Schaper und Patrick Wildermann.

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